HR-Debatte

1:12-Initiative

Endlich mehr Lohngerechtigkeit oder ein drohender Abgrund für unsere Wirtschaft? 
Die Meinungen zur Volksinitiative, über welche die Schweiz am 24. November befindet, 
gehen auseinander. Auch bei Jacqueline Badran und Ruedi Noser. Beide politisieren 
im Nationalrat und stehen an der Spitze ihrer Unternehmen, doch die Bedeutung von 1:12 
sehen sie in ganz unterschiedlichem Licht. Für Jacqueline Badran wäre es die Rückkehr 
von einer Privilegien- zu einer echten Leistungsgesellschaft. Ruedi Noser dagegen 
spricht von einem «Saubannerzug» gegen die Schweizer Wirtschaft.

Niemand leistet 196 Mal mehr
als jemand anders

Wir haben eine Leistungsgesellschaft – so zumindest war das ursprünglich gedacht. Nach der bürgerlichen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts, die sich gegen die Privilegien des Adels richtete, etablierte man eine gerecht sein wollende Gesellschaft: «Liberté, Egalité, Fraternité» machte seinen Siegeszug durch Frankreich, Amerika, die Schweiz. Nach dem grossen liberal-bürgerlichen Credo sollten alle Menschen frei und formal gleich sein und von Geburt an mit gleichen Chancen ausgestattet sein (Freiheit und Gleichheit). Leistung sollte zählen und nicht der Vorrang der Privilegien durch Geburt. Und unter den Bürgern sollte zwischen den Glücklichen und weniger Glücklichen Soli-darität herrschen (Brüderlichkeit).

Dabei delegierte man mit den Sozialwerken die Bedarfsgerechtigkeit an den Staat. Niemand sollte Hunger leiden, alle ein Dach über dem Kopf haben. Die Leistungsgerechtigkeit zu erfüllen, delegierte man an die Privatwirtschaft. Jeder, der mehr an die Wertschöpfung beiträgt, soll auch mehr vom gemeinsam erwirtschafteten Kuchen bekommen. Ein wunderschönes Konzept, das besonders in der Nachkriegszeit in allen westlichen Demokratien verwirklicht wurde.

Und tatsächlich, die Wirtschaft hat dies über Jahrzehnte hinbekommen. Sie gibt sich auch heute noch in vielen Bereichen Mühe. Wer im HR kennt schon nicht das berühmte magische Dreieck der Verteilungsgerechtigkeit von HSG-Professor Martin Hilb? Demnach muss ein Unternehmen sowohl interne Verteilungsgerechtigkeit als auch Personalmarktpreisgerechtigkeit und Unternehmenserfolgsgerechtigkeit sicherstellen. In den 80er-Jahren betrug das Lohnspreiz-Verhältnis in der Schweiz 1 zu 6, in den 90er-Jahren 1 zu 14, heute ist es 1 zu 196. Das ist erschütternd. Niemand leistet 196 Mal mehr als jemand anders. Niemand! Die Wirtschaft versagt also zunehmend, die ihr zugeteilte Aufgabe der Herstellung von Leistungsgerechtigkeit zu erfüllen. Dies nennt man Marktversagen. Wo auch immer Marktversagen vorliegt – so auch die neoliberale Theorie – muss die Politik eingreifen. Und genau dieser Logik folgt die 1:12-Initiative. Diese leistet einen enorm wichtigen Beitrag zur Debatte um «den gerechten Lohn» in einer arbeitsteiligen Gesellschaft.

Dieser Diskurs ist nicht neu, er wurde während Jahrhunderten von der Kirche und den Philosophen geführt. Aber nachdem die modernen Demokratien der Nachkriegszeit immer gerechtere Verhältnisse hergestellt hatten, wurde er eine lange Zeit überflüssig. Diese Zeiten funktionierten nach der Logik «Wenn es allen gutgeht, dann geht es denen oben gut». Wir haben uns mittlerweile meilenweit von einer Leis-tungsgesellschaft entfernt und sind zu einer Privilegien--Gesellschaft zurückgekehrt. Dies und die Lohnexzesse des letzten Jahrzehnts machten es nötig, dieses Thema wieder zu-oberst auf die Agenda zu setzen. Die Prämissen haben sich ganz plötzlich geändert: «Wenn es denen oben gutgeht, geht es allen gut.» Was natürlich schwachsinnig ist. Erst wenn die Angestellten die von ihnen hergestellten Produkte und Dienstleistungen auch selber kaufen können, floriert die Wirtschaft und kann sich ein breiter Mittelstand bilden.

Das Erfolgsmodell der Schweiz war immer der Ausgleich. Ein Ausgleich zwischen den Sprach- und Kulturregionen, zwischen den Religionen, zwischen Staat und Wirtschaft und eben auch zwischen «oben» und «unten». Der Bänker und der Bäcker auf der gleichen Militärpritsche und dem gleichen Parlamentsbänkli. Ein Leben unter Ähnlichen. So gesehen stellt die 1:12-Initiative nur den Erfolgszustand wieder her, den wir bis in die 90er-Jahre hatten. Und das ist sehr gut so.

  • Jacqueline Badran, dipl. phil. II et lic. rer.publ. HSG, ist Unternehmerin und Nationalrätin SP Zürich.

 

Mit dem sozialistischen Lohndiktat 
verliert die Schweiz 12 zu 1

1:12 – auf den ersten Blick liest sich diese Forderung wie das Ergebnis eines miserablen Fussballmatchs. Doch es ist die Schweizer Wirtschaft, die haushoch verliert und nicht die Schweizer Nationalmannschaft. Das Tor, das die Befürworter der 1:12-Initiative schiessen, ist die Einführung eines in ihren Augen «gerechten» Lohnsystems à la Karl Marx. Die zwölf Gegentreffer, die die Schweiz dafür erhält, sind ein staatliches Lohndiktat, allgemein tiefere Löhne, empfindliche Steuerausfälle bei Bund, Kantonen und Gemeinden, fehlende Beiträge bei den Sozialversicherungen und höhere Steuern. Kurzum: Es gäbe weniger für alle!

Die Schweizer Wirtschaft ist sehr erfolgreich. In diesem Herbst haben alle Schulabgänger eine Lehrstelle gefunden, es blieben gar Ausbildungsplätze frei. Die Arbeitslosigkeit liegt bei sehr tiefen 3 Prozent. Wer seine Ausbildung abgeschlossen hat, findet im Anschluss den Einstieg in die Arbeitswelt, und wer will, kann auch Karriere machen.

Die Schweizer Wirtschaft kann von sich selbstbewusst behaupten, dass sie der Schweiz dient. Der Bevölkerung bringt sie viel Wohlstand und dem Staat garantiert sie sichere Steuereinnahmen. Jahr für Jahr.

Nur wegen ein paar überrissener Lohnzahlungen müssen wir gegen unsere erfolgreiche Wirtschaft deshalb nicht gleich einen «Saubannerzug» veranstalten. Die 1:12-Initiative verlangt nach einem liberalen Widerstand!

Von der Initiative wären weit mehr Firmen betroffen als nur jene fünf, die in den Medien immer wieder genannt werden und in der Vergangenheit bei den Spitzenlöhnen übertrieben haben. Auch Swatch, Implenia, Swisscom, Valora und gar die Post – ein reiner Staatsbetrieb – wären betroffen. Denn bereits ab 400 000 Franken Jahreseinkommen würde es eng mit der 1:12-Regelung: Zum Lohn zählen die Initianten nicht nur, was ausbezahlt wird, sondern sämtliche Zuwendungen, die mit einer Erwerbstätigkeit entrichtet werden. Das heisst auch den Business-Class-Flug, den Firmen-wagen, die Beletage ganz allgemein. Da befänden sich selbst unsere Bundesräte in der «Gefahrenzone».

Das sozialistische Lohndiktat hätte aber auch Folgen für jede und jeden von uns. Warum? Weil der Chef zwar 12 Mal mehr verdienen darf als die Putzfrau, aber damit der Entwicklungsleiter auch 2 Mal weniger verdienen muss als der Chef. In jedem Unternehmen finden sich verschiedene Lohnstufen. Diese stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Werden die obersten Löhne gesenkt, müssten auch die darunterliegenden Lohnstufen entsprechend angepasst werden. Und wenn der Entwicklungsleiter bei ABB weniger verdient, wie lange wird dann ein KMU seinem Entwicklungsleiter in vergleichbarer Position den höheren Lohn zahlen?

Vom liberalsten Wirtschaftsraum in Europa, auf dem unser ganzer Wohlstand, aber auch unsere Umverteilung und Sozialpartnerschaft aufbauen, würde uns die 1:12-Initiative auf einen Schlag zum grossen Verlierer machen.

Die Wirtschaft ist nicht einfach ein undefinierbares, profitorientiertes Etwas da draussen. Die Wirtschaft sind wir, die Unternehmer, die Aktionäre, die Mitarbeitenden. Nur wir können das Wirtschaftssystem ändern, und zwar von innen heraus. Mit absurden Regeln aber töten wir unsere soziale Marktwirtschaft ab, anstatt ihr die Freiheit zu geben, erfolgreich zu sein.

Stehen wir am 24. November gemeinsam für ein sozial verantwortliches, innovatives und freiheitliches Wirtschaftssystem ein. Das Erfolgsmodell Schweiz ist zu wertvoll, um sozialistischen Wunschträumen geopfert zu werden!

  • Ruedi Noser ist Unternehmer und Nationalrat FDP Zürich.
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Ruedi Noser ist Unternehmer und Nationalrat FDP Zürich.

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