In der Kaffeepause entstehen die besten Lösungen
Der technologische Fortschritt weckt ab und zu falsche Hoffnungen. Bekanntestes Beispiel aus der Arbeitswelt ist die Illusion des papierlosen Büros. Heute produzieren wir so viel Papier wie nie zuvor. Ähnlich unrealistisch scheinen mir die Erwartungen zu sein, die mit der Idee Home Office verbunden werden. Zweifellos stehen heute alle nötigen technischen Voraussetzungen für eine derartige Auflösung des klassischen Arbeitsplatzkonzepts zur Verfügung. Für viele Arbeitnehmer ist die Möglichkeit, zu Hause arbeiten zu können, durchaus verlockend. Doch für die meisten Unternehmen zahlt sich eine derartige Dezentralisierung ihrer Arbeitsplätze nicht aus. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass dies der Produktivität und Qualität abträglich wäre. Das gilt ganz besonders für Firmen, die von ihren Mitarbeitern kreatives Schaffen verlangen. Diese Behauptung erscheint auf den ersten Blick paradox, sehnen sich doch gerade diese Mitarbeiter häufig nach einem eigenen Büro oder möchten am liebsten zu Hause, abgeschottet von den sie ablenkenden Kolleginnen und Kollegen, schöpferisch tätig sein.
Dieser Wunsch ist aus der Sicht des Einzelnen nachvollziehbar. Aus der Sicht des Unternehmens, dessen oberstes Ziel es ist, die Ideen und die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter zu einem möglichst optimalen Ganzen zu bündeln, ist aber genau das Gegenteil entscheidend. Die Mitarbeiter sollen sich möglichst am selben Ort aufhalten, um sich während des Arbeitsprozesses, während des ganzen Arbeitstags, kontinuierlich austauschen zu können. Wer einwendet, dezentral angesiedelte Mitarbeiter könnten ja ganz einfach mittels Telefonkonferenzen verbunden werden, übersieht das Potenzial, das im Ideenaustausch steckt, der zwischen und neben offiziellen Sitzungen stattfindet. Eine Konferenz ist in der Regel nicht der Ort, an dem spontane Ideen geboren werden. Das gilt in der Wirtschaft ebenso wie in der Politik. Minister finden nicht im grossen Konferenzsaal, während der stark strukturierten Sitzung, sondern in der Kaffeepause die besten Lösungen. Ebenso entstehen am Arbeitsplatz überraschende Ideen, neue Inputs während eines Gesprächs im Lift, im Pausenraum oder beim gemeinsamen Mittagessen. Gerade Letzteres ist eine wertvolle Gelegenheit, die wegfällt, wenn die Mitarbeiter dezentral arbeiten. Doch sind es gerade solche nicht offizielle Gelegenheiten, welche Einzelkämpfer zu einer Gruppe werden lassen.
Eine Teamleistung – auch in kreativen Branchen ein zentraler Erfolgsfaktor – lässt sich nur durch den persönlichen Austausch optimieren. Aus demselben Grund fliegen übrigens viele Manager immer noch in der ganzen Welt herum, um ihre Gesprächspartner persönlich zu treffen. Mit einer Videokonferenz könnten sie zwar Zeit und Geld sparen, doch ist ihnen die persönliche Begegnung ganz offensichtlich mehr wert.
Ähnliches bezweckt die moderne Büroraumplanung, die auf offene, grössere Räume statt Einzelbüros setzt. Die Mitarbeiter sollen sich auch räumlich als Teams verstehen, ihre kontinuierliche Interaktion soll mit baulichen Massnahmen gefördert werden. Genau das aber würde das Home Office zunichtemachen. Alle Mitarbeiter wären nicht nur wieder in Einzelbüros verbannt, sondern sogar räumlich in andere Gebäude, ja andere Städte verteilt. Man trifft sich persönlich nur noch an Konferenzen, die man aufwendig terminieren muss. Der Home-Office-Vorstellung liegt eigentlich eine längst überholte Vorstellung zugrunde, die ein Unternehmen als Konglomerat von Einzelkämpfern definiert.
- Benjamin Geiger, lic. phil. I, ist Chefredaktor der «Zürichsee-Zeitung» und des «Zürcher Unterländers». Auf den beiden Redaktionen arbeiten insgesamt etwa 100 Personen.