«Graphologie ist so aussagekräftig wie Astrologie»
Zu den Merkmalen einer leistungsstarken, professionellen Organisation gehören die Methoden zur Talentidentifizierung sowie – namentlich in Bezug auf die Rekrutierung – der Einsatz wirksamer und zuverlässiger Auswahlinstrumente. Wirksamkeit bezieht sich hier auf die Frage, inwieweit eine Auswahlmethode jene Grössen misst, die sie messen soll. Zuverlässigkeit der Methode bedeutet, dass bei gleichen Messungen immer wieder die gleichen Ergebnisse erzeugt werden. Als Instrument zur Messung von Persönlichkeitsmerkmalen und Vorlieben sowie zur Vorhersage der Arbeitsleistung fehlt es der Graphologie an Wirksamkeit und Zuverlässigkeit. Obwohl manche Argumente für die Graphologie sprechen, haben Studien gezeigt, dass sich Persönlichkeitsmerkmale und Arbeitsleistung mit dieser Methode nicht schlüssig vorhersagen lassen. Die British Psychology Society setzt die Graphologie mit der Astrologie gleich, der sie keinerlei Aussagekraft zugesteht.
Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass ich als HR-Spezialist glaubwürdig erscheine. Dies nicht nur im Hinblick auf meinen eigenen Erfolg, sondern auch auf die Fähigkeit, mit nützlichen Ergebnissen zum Erfolg meiner Kunden beizutragen. Deshalb stütze ich mich bei der Beratung von Führungskräften in Einstellungsfragen niemals auf unseriöse Auswahlinstrumente, zumal es sich um einen der wichtigsten Prozesse einer Organisation handelt. In Unternehmen, die nach Leistungssteigerung streben, sind datengesteuerte, forschungsgestützte und erprobte Lösungen erwünscht, die beweisen, dass das HR geschäftlichen Mehrwert erzeugt.
Darüber hinaus stünden die Reputation eines Unternehmens und das Image als Arbeitgeber auf dem Spiel, wenn Bewerber feststellen, dass veraltete oder ungültige Rekrutierungsmethoden angewandt werden. Gewiss: Für Unternehmen, denen es gleichgültig ist, wie sie von Bewerbern angesehen werden, mag dies keine Rolle spielen; ausschlaggebend ist letztlich, welche Unternehmensstrategie im Bereich Talentsuche und -management verfolgt wird. Als junger Kandidat aus der neuen Arbeitskräftegeneration würde ich aber darauf achten, wie man mich beim Auswahlverfahren behandelt.
Auch in juristischer Hinsicht stellt der Einsatz der Graphologie als Rekrutierungsinstrument ein Risiko dar, vor allem für internationale Unternehmen, die sich der Gleichbehandlung der Geschlechter verpflichtet fühlen. So ermöglichen beispielsweise die Bundesgesetze gegen Diskriminierung in den USA den Betroffenen, erfolgreich zu klagen. Die Analyse der Handschrift lässt Rückschlüsse auf das Geschlecht, die Rasse oder die Nationalität zu, welche die Beurteilung des Graphologen beeinflussen und letztlich zu Diskriminierung führen können.
Ich möchte hier nicht dogmatisch erscheinen und habe auch Verständnis für die menschliche Neugier, «sich selbst zu erkennen». Für gewisse Leute kann die Graphologie bei der Beurteilung eines Kandidaten durchaus von Interesse sein. Dennoch stellt sich im Geschäftsleben die Frage: Warum wertvolle Zeit und Mittel für etwas verschwenden, das so aussagekräftig ist wie die Astrologie? Würden Sie als Unternehmer einem derart unprofessionellen und juristisch riskanten Verfahren vertrauen, um die bestmöglichen Talente für Ihre Organisation auszuwählen? Ich nicht.
- Alex Khatuntsev ist Human Resources Director bei der Actelion Pharmaceuticals Ltd. Er hat einen Master in HRM und ist zertifiziert in psychometrischer Bewertung nach SHL & Lominger, Professional Certified Coach.