Methoden

Vom leisen Untergang der 
graphologischen Gutachten

Kann man anhand einer Schrift darauf schliessen, ob die betreffende Person für die ausgeschriebene Stelle geeignet ist? Zahlreiche Unternehmen finden «nein» und verzichten heute auf den Einsatz von 
graphologischen Gutachten.

Vor 30 Jahren gehörte es zum guten Ton, das Bewerbungsschreiben von Hand zu verfassen. Oft forderte bereits die Stellenanzeige dazu auf, eine Handschriftenprobe oder einen handgeschriebenen Lebenslauf beizulegen. Bei der Rekrutierung von Schlüssel- oder Kaderpositionen setzten noch vor zehn Jahren viele Unternehmen graphologische Gutachten als Rekrutierungsinstrument ein. In den letzten Jahren haben die graphologischen Gutachten im Bewerbungsprozess jedoch an Bedeutung verloren. «Früher räumte man diesem Bereich einen höheren Stellenwert ein. Es gibt aber noch zahlreiche KMU, die graphologische Gutachten beim Bewerbungsprozess einsetzen», sagt Ruth E. 
Hofmann, die als langjährige Geschäftsführerin der Link Personalberatung die Bedürfnisse des HR sehr gut kennt. Das Gutachten sei immer nur die Bestätigung des Eindrucks aufgrund des Interviews, der Zeugnisse und der Referenzen.

Als einzelner Baustein im Mosaik

Kritiker siedeln Graphologie als Pseudowissenschaft in der Nähe von Astrologie oder Esoterik an. Heinz Schuler, Psychologieprofessor an der Universität Hohenheim in Stuttgart und einer der führenden Personalpsychologen Europas, ist davon überzeugt, dass graphologische Gutachten bei der Personalauswahl auf dem Rückzug sind. Graphologische Gutachten seien nachweislich nicht geeignet, um auf ihrer Basis berufliche Eignung zu diagnostizieren und beruflichen Erfolg vorherzusagen. Heinz Schuler: «Die wichtigsten Untersuchungen haben gezeigt, dass die früher erzielte – ohnehin geringe – Validität auf einem methodischen Fehler beruhte: Man hat den Graphologen handschriftliche Lebensläufe vorgelegt. Gibt man ihnen neutrale Texte zur Analyse, verschwindet die Aussagekraft vollständig.»

Nur eines der fünf angefragten Unternehmen gab an, graphologische Gutachten in den Bewerbungsprozess einzubeziehen. Der Migros-Genossenschafts-Bund setzt ausnahmsweise, etwa auf Wunsch der Linienvorgesetzten oder in speziellen Konstellationen, graphologische Gutachten ein. Die Informationen bildeten eine weitere Grundlage für das Gespräch mit dem Kandidaten, wie Mediensprecherin Olivia Luginbuehl festhält: «Wir betrachten eine graphologische Analyse als einen weiteren Mosaikstein im Bild des Kandidaten. Ein psychologischer Test ist jedoch valider und wird deshalb vorgezogen.»

Bei der Bank Sarasin in Basel waren graphologische Gutachten nie richtig im Rekrutierungsprozess verankert. Seit rund drei Jahren wendet die Bank sie nicht mehr an. «In der Vergangenheit wurden graphologische Abklärungen vor allem bei der Rekrutierung von gehobenen Funktionen angewendet, wenn Zweifel bestanden, oder im Zusammenhang mit internen Standortbestimmungen gemacht», erklärt Stephan Storchenegger, HR Head Sarasin Gruppe. Von einer konsequenten, funktionsbezogenen oder sogar flächendeckenden Anwendung habe die Bank Sarasin abgesehen, da der Umgang mit dieser Art von Gutachten gut begleitet werden muss. Ansonsten könnten gemäss Storchenegger voreilig falsche Schlüsse gezogen werden.

Wissenschaftlich umstritten

Auch die Zürcher Kantonalbank verzichtet auf den Einsatz von Graphologie bei der Rekrutierung. «Graphologische Gutachten sind schon seit langem umstritten und im deutschsprachigen Raum wenig akzeptiert», sagt René Hoppeler, Personalleiter der ZKB. Die betrieblichen Bedürfnisse bei der Rekrutierung würden von differenzierten Tests, Einzel-Assessments und strukturierten Interviews vollständig abgedeckt.

Ähnlich klingt es bei Swiss Re und Max Havelaar. «Im Vergleich zu anderen Methoden wie gezieltes Interviewing, Assessments oder Personality-Tests schätzen wir den Nutzen von graphologischen Gutachten als gering ein», so Mariana Barbosa, Senior HR Recruiting Expert bei Swiss Re. Max Havelaar hat das Verfahren in der Rek
rutierung nie verwendet, wie Jacqueline Born, Verantwortliche Personalwesen, erklärt: «Der Zusammenhang von Schriftbild und Persönlichkeitsmerkmalen konnte wissenschaftlich nie bewiesen werden oder ist zumindest sehr umstritten.»

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Susanne Wagner ist freie Journalistin.

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