Der Hase und der Igel – oder: Gefährliche Frustration
Willkommen in der Welt der Märchen. «Der Hase und der Igel» zeigt auf, warum Menschen natürlicherweise nach Leistungsvergleichen streben – und wie Frust und Rache dazu führen können, dass solche Vergleiche gefährlich werden.
Neun Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir aus ihnen für Führung und Selbstmanagement lernen können. (Bild: 123RF)
Das Märchen
Der Hase und der Igel von den Gebrüdern Grimm (1815)¹
Es war einmal ein Igel. An einem schönen Sonntagmorgen beschloss er, einen kleinen Spaziergang zum Feld zu machen. Am Feld traf er den Hasen und wünschte ihm freundlich einen guten Morgen. Der Hase, der ein vornehmer und arroganter Herr war, fragte nur spöttisch: «Wie kommt es, dass du hier schon so am frühen Morgen im Feld herumläufst?» «Ich gehe spazieren!», antwortete der Igel. Der Hase lachte über den Igel und sagte: «Du könntest deine Beine schon zu besseren Dingen gebrauchen.»
Dass der Hase sich ausgerechnet über seine krummen Beinchen lustig machte, verdross den Igel sehr. Er fragte er den Hasen, ob dieser denke, mit seinen Beinen mehr ausrichten zu können. Der Hase, der sich seiner Talente sehr sicher war, bejahte dies. Daraufhin schlug der Igel ein Wettrennen vor – in einer Stunde sollte es beginnen.
Als der Igel zu Hause ankam, erzählte er seiner Frau rasch von der Wette und bedeutete ihr, mit ihm ins Feld zu kommen. Auf dem Weg erklärte er ihr seinen Plan: «Dort auf dem Acker läuft der Hase in einer Furche und ich in der anderen. Du brauchst dich jetzt nur hier unten in die Furche zu stellen. Und wenn der Hase in seiner Furche daherkommt, so rufst du ihm entgegen: Ich bin schon da!»
Als das Rennen losging, rannte der Hase wie ein Sturmwind den Acker hinunter, der Igel aber lief nur ein paar Schritte und duckte sich dann flink in die Furche.
Als der Hase am anderen Ende des Ackers ankam, rief ihm die Frau des Igels entgegen: «Ich bin schon da!» Dem Hasen stand das Erstaunen ins Gesicht geschrieben – glaubte er doch, den Igel vor sich zu sehen. So forderte er ein neues Rennen, den Acker wieder hinauf. Wieder flitzte er los. Dieses Mal sprang der Igel aus seiner Furche und machte den Hasen erneut glauben, er habe verloren. Der Hase war ausser sich vor Ärger. «Nochmal!», forderte er. So lief der Hase 73 Mal, und jedes Mal war der Igel scheinbar vor ihm am Ziel. Beim 74. Lauf fiel der Hase vor Erschöpfung tot zu Boden. Das Ehepaar Igel ging jedoch vergnügt nach Hause.
Streben nach Leistungsvergleichen
Lassen Sie uns gleich zu Anfang auf den Vergleich fokussieren, der zwischen Hase und Igel stattfindet und dessen Ergebnis letztendlich ausschlaggebend für das nachfolgende Kräftemessen ist.
Anhand der Tendenz zum sozialen Vergleich («social comparison bias»)² lässt sich das Verhalten des Igels erklären. Es handelt sich dabei um eine Benachteiligung aufgrund einer empfundenen Bedrohung im sozialen Vergleich. Diese Tendenz tritt dann auf, wenn Personen – oder Hase und Igel – sich nach oben vergleichen. Das heisst, wenn der Vergleich der eigenen Person mit einem Individuum oder einer Gruppe stattfindet, die im subjektiven Empfinden erfolgreicher ist. Diese Verzerrung zeigt sich aber nur auf Ebenen, die für die Person selbstwertrelevant sind².
Daraus resultiert eine Bedrohung des Selbstwertes, die Menschen grundsätzlich zu entschärfen suchen. Für den Igel sind seine krummen Beine ein Schwachpunkt und so sieht er sich im Vergleich mit den Beinen des Hasen als Verlierer. Statt sich von der Bedrohung, also dem Hasen, fernzuhalten, geht er in die direkte Konfrontation und fordert ihn heraus.
Unsere Gesellschaft ist von Leistung geprägt und zwangsläufig existieren darin auch Leistungsvergleiche. Der Druck, Leistung zu erbringen, führt zu Konkurrenz und Wettbewerb. In solchen Wettbewerbssituationen ist es vollkommen natürlich, Vergleiche anzustellen und nicht grundsätzlich Gift für unser soziales Miteinander. Die Theorie der sozialen Vergleichsprozesse³ beschreibt ebendies. Es geht um das Streben des Menschen, eigene Meinungen und Fähigkeiten zu bewerten. Um dies zu erreichen, vergleichen sich Menschen mit anderen. Ein Vergleich dient also zuallererst der Kategorisierung. In einer Leistungssituation kommt der Aspekt des Wettbewerbs hinzu. Dieser Wettbewerb herrscht in unserer Gesellschaft nicht nur im Arbeitsumfeld.
Ein jeder sägt am Stuhl des anderen und kämpft bis zum Umfallen. Arbeitskräfte sind austauschbarer geworden, Grenzen lösen sich auf. Hunderte stehen bereit, um den Platz einzunehmen, den ein anderer frei macht. Und nicht nur im Job besteht Konkurrenz und Wettbewerb. Wer trägt die tollste Kleidung, wer hat das schönste Strandhaus?
Zufriedensein ist schwierig geworden. Gerade die Generation Y ist geprägt von der Suche nach dem Optimum. Und so sehr diese Suche auf der einen Seite anspornt, besser zu werden, mehr zu erreichen, höher zu streben, so kann sie doch ein Hindernis für unser soziales Zusammenleben sein. Sozialer Vergleich und Ungleichheit wird immer bestehen – die Frage ist, was wir daraus machen.
Minderwertigkeit und Selbstwertbedrohung
Auch die Minderwertigkeitstheorie nach Adler spiegelt diese Diskrepanz wider. Adler spricht dabei von Menschen, die sich körperlich minderwertig fühlen und dann versuchen, dieses Gefühl durch Höchstleistungen zu kompensieren. Können sie die Höchstleistung jedoch nicht erbringen, so versuchen sie zumindest, dies zu suggerieren⁴.
Der Igel stellt ein Paradebeispiel für diese Theorie dar. Seine Beine geben ihm das Gefühl, körperlich minderwertig zu sein. Sie sind seine Schwachstelle – deswegen macht der Igel dem Hasen vor, trotz seiner Beinchen sportliche Glanzleistungen erbringen zu können.
Frustration, Aggression und Rache
Auch wenn wir nicht wissen, aus welchem Impuls heraus der Igel entscheidet, so gibt es doch Anhaltspunkte dafür, dass er es aus Frustration tut. Diese kann nämlich dazu führen, dass Menschen emotionsgeladen und aggressiv handeln. In Anlehnung an Freud haben Forscher schon in den 1930er-Jahren eine Theorie entwickelt, die einen positiven Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression vorhersagt⁵.
Es liegt nahe, dass der Kommentar des Hasen über die Beine des Igels diesen frustriert hat. Die Frustration und Aggression des Igels wird deutlich, wenn wir uns den Ablauf des Rennens noch einmal genauer ansehen: Mit Sicherheit sah man dem Hasen schon beim 30. oder 40. Rennen seine Erschöpfung deutlich an. Und selbst wenn er erst beim 68. Rennen gefährlich keuchte, hätte der Igel das Rennen abbrechen und als Gewinner nach Hause gehen können. Aber er spielt das falsche Spiel unerbittlich weiter, so lange bis der Hase zu Tode kommt. Leider ist Frustration oft die Quelle von Aggression, welche teilweise in schlimmen Gewalttaten gipfelt.
Ausserdem fliesst hier das Motiv nach Rache mit ein. Der Igel ist nicht nur frustriert. Er sinnt danach, dem Hasen die Beleidigung heimzuzahlen. Vielleicht erklärt dies auch, warum der Igel dem fatalen Rennen kein Ende bereitet. Bereits nach zehn Runden hat der Igel die Genugtuung, den Hasen überlistet zu haben. Warum führt er den Hasen weiter vor und gibt sich nicht zufrieden? Er handelt sehr überlegt und berechnend und ist doch blind vor Wut.
Und die Moral ...
Auch wir interagieren im Alltag ständig mit anderen, sind aktiv in verschiedenen Rollen, sind Teil einer Gruppe oder handeln als Individuum. Im sozialen Vergleich werden wir im Laufe des Lebens immer wieder selbstwertbedrohende Konfrontationen erleben. Manchmal ist es aber nicht möglich, dieser Bedrohung auszuweichen, beispielsweise wenn der eigene Vorgesetzte oder ein Mitarbeiter im eigenen Team diese Bedrohung darstellt. Dann gilt es, sich mit dem Unterschied zwischen der anderen und der eigenen Person zu arrangieren und Bewältigungsstrategien einzusetzen. Dabei ist vor allem entscheidend, sich die eigenen Talente und Fähigkeiten bewusst zu machen. Stärken und Schwächen sind nicht bei jedem Menschen gleich und das ist gut so. Nur durch die Kombination von Stärken und den Ausgleich von Schwächen funktioniert Zusammenleben, Gruppenarbeit und letztlich die Gesellschaft.
Eine Schwäche oder Stärke wird auch erst dann zum Konflikt führen, wenn sie überstrapaziert wird. Dies sehen wir auch bei Hase und Igel. Eigentlich ist die Stärke des Igels seine Klugheit, aber das Gefühl von Übermacht lässt ihn die Grenze überschreiten. Ebendies erleben wir auch im Alltag. Ehrgeiz ist mitnichten eine schlechte Eigenschaft. Er lässt uns über uns selbst hinauswachsen. Aber im Übermass macht er uns zum verbissenen Kämpfer.
Immer wird es jemanden geben, der besser, angepasster, engagierter und intelligenter ist. Dies kann aber auch als Ansporn dienen, sich auf eine gesunde Art selbst zu steigern und an sich zu arbeiten. Liegt der Fokus jedoch zu stark auf der einen Fähigkeit, die der andere zeigt und die man selbst gern hätte, so wird dieser Vergleich nicht nur zur Bedrohung des Selbstwertes, sondern tatsächlich zu dessen Verminderung führen.
Am Ende bleibt wichtig zu erwähnen, dass sich der Hase sowie der Igel in vielerlei Hinsicht unethisch verhalten. Der Hase beleidigt den Igel und bringt ihm keine Wertschätzung entgegen. Der Igel ist letztendlich ein Trickser, der sein Nichtstun geschickt zu seinem Kapital macht. Diese Rollenverteilung von Hase und Igel begegnet uns in Partnerschaften, in Familien und in Unternehmen, in denen sich einer ein Bein ausreisst, während der andere eine freizeitorientierte Schonhaltung als gut und erstrebenswert anpreist. Da bemerkt man erst, wie oft man – im übertragenen Sinne – Igeln und auch Hasen begegnet.
Es war einmal ...
In unserer Sommerserie 2017 stellen wir Ihnen neun Märchen unter dem Aspekt der psychologischen Analyse vor – und was wir für Mitarbeiterführung und Selbstmanagement daraus lernen können.
Quellen:
- ¹Grimm, J., & Grimm, W. (2011). Die schönsten Kinder- und Hausmärchen – Kapitel 77. Der Hase und der Igel. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-6248/77. Zugegriffen: 22. November 2016.
- ²Garcia, S. M., Song, H., & Tesser, A. (2010). Tainted recommendations: The social comparison bias. Organizational Behavior and Human Decision Processes 113, 97–101.
- ³Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations 7, 117–140.
- ⁴Adler, A. (1912). Über den nervösen Charakter. Wiesbaden: J. F. Bergmann.
- ⁵Dollard, J., Doob, L. W., Miller, N., Mowrer, O. H., & Sears, R. R. (1939). Frustration and aggression. New Haven: Yale University Press.
Buchtipp
Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können.