Väterchen Frost – oder: Autorität und blinder Gehorsam
Willkommen in der Welt der Märchen. In «Väterchen Frost» ist ein Mann bereit, seine eigene Tochter im Wald auszusetzen – weil er unter Druck gesetzt wird. Die wissenschaftliche Analyse zeigt auf, dass dieses Szenario erschreckend realitätsnah ist.
Neun Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir aus ihnen für Führung und Selbstmanagement lernen können. (Bild: 123RF)
Das Märchen
Väterchen Frost von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)¹
Vor langer Zeit lebte ein Mann mit seiner Frau in einem weit entfernten Land. Beide hatten aus ihrer früheren Ehe je eine Tochter. Während die Tochter der Frau lieblos und gemein war, war die des Mannes gutherzig und sanft. Die Frau liebte nur ihr leibliches Kind und liess ihre Stieftochter tagelang hart arbeiten. So musste das Mädchen das ganze Haus putzen und wurde von der Stiefmutter geschlagen und beleidigt. Die Frau hasste die Tochter des Mannes von Tag zu Tag mehr. Eines Tages, mitten im Winter, beschloss die Stiefmutter, dass der Mann seine Tochter in den tiefen Wald bringen und sich selbst überlassen sollte. Der Mann wollte das nicht und versuchte, der Frau diesen Gedanken auszureden. Doch diese war so boshaft und herrisch, dass er aus Angst vor ihr seine einzige Tochter mit in den Wald nahm und sie dort alleine zurückliess.
Einsam und verlassen sass das Mädchen nun unter einem Baum. Nach kurzer Zeit hörte es ein Knacken von Zweigen und kurz darauf eine Stimme, die sprach: «Frierst Du, liebes Kind?» Das Mädchen erkannte die Stimme als die von Väterchen Frost und antwortete: «Nein, Väterchen Frost. Mir ist nicht kalt.» Da kam er immer näher zu dem Kind und fragte es noch einige Male – doch das Mädchen antwortete immer, dass ihr warm sei. Väterchen Frost gefiel dessen bescheidene und milde Art und er entschied, ihr zu helfen. Er wickelte sie in einen weichen und prächtigen Mantel, wärmte sie die ganze Nacht und überhäufte sie am nächsten Morgen mit kostbaren Geschenken. Der Vater des Mädchens bedauerte inzwischen seine böse Tat und kam am nächsten Tag in den Wald zurück, um seine Tochter zu retten. Als er sie nicht nur lebendig, sondern auch warm bekleidet und mit Reichtümern beladen vorfand, war die Freude umso grösser.
Als beide wieder nach Hause zurückkehrten und die Stiefmutter die Reichtümer des Mädchens sah, wollte sie, dass der Mann auch ihre eigene Tochter in den Wald bringt, damit diese dort eine Nacht verbringen und reich beschenkt zurückzukehren würde. Also liess dieser die Tochter der Frau dort zurück. Doch als der Mann sie am nächsten Morgen holen wollte, war sie nicht mit Reichtum beladen, sondern durchgefroren. Der Mann brachte der bösen Frau den Leichnam ihrer Tochter, nahm seine eigene bei der Hand und zog mit ihr weit weg an einen wunderschönen warmen Ort.
Ein Drittel gehorcht blind
Können Sie sich vorstellen, warum sich der Vater in dem Märchen der Anweisung der Stiefmutter nicht widersetzte und seine einzige Tochter zum Sterben im Wald zurückliess? Oder allgemeiner gefragt: Warum fügen Menschen anderen Menschen auf Befehl Schaden zu, ohne es selber zu wollen? Diese Frage stellte sich auch der Psychologe Stanley Milgram in den frühen 1960er-Jahren und führte daraufhin die umstrittene und wohl bekannteste psychologische Studie in der Geschichte des Faches durch².
Milgram konnte zeigen, dass ganz normale Menschen, die mit Verstand und Gewissen ausgestattet sind, durch die Befehle einer Autorität dazu gebracht werden können, andere Menschen zu quälen und sogar zu töten.
In einem Versuch wurden die Probanden vom Versuchsleiter dazu aufgefordert, in ihrer zugewiesenen Rolle als «Lehrer» einem «Schüler» bei Fehlern immer stärkere elektrische Schläge zu versetzen.
Die Teilnehmer konnten sich gegenseitig nicht sehen, allerdings waren die Schmerzensäusserungen zu hören. Dass die Schmerzensschreie nur vorgetäuscht waren und es in Wahrheit keine Elektroschocks gab, wussten die Versuchspersonen nicht.
Zögerten oder weigerten sich die Probanden, weitere Elektroschocks zu verabreichen, drängte der Versuchsleiter sie, fortzufahren.
Im in verschiedenen Ländern durchgeführten Experiment waren 65 Prozent (in Deutschland 85 Prozent) aller Versuchspersonen bereit, auf Anordnung eines Wissenschaftlers, einer anderen Person so lange immer höhere Stromschläge zu erteilen, bis diese nach langem Flehen um Entlassung aus dem Experiment (bei 450 Volt) verstummte, sodass man vom Tod dieser Person ausgehen konnte.
Das Besondere dabei war, dass sich die Versuchspersonen anfangs genauso wie der Vater im Märchen gegen die grauenhaften Handlungen sträubten, sich am Ende jedoch trotzdem den Befehlen der Autoritätsperson – des Wissenschaftlers – beugten.
Denken Sie, Sie hätten an der Stelle der Versuchspersonen anders gehandelt? Mag sein. Jedoch konnten die Forscher in Folgestudien zeigen, dass die individuellen Unterschiede zwischen den Personen eine eher untergeordnete Rolle bei der Vorhersage von Gehorsam spielen.
Jüngste Wiederholungen des Experiments kamen zum Ergebnis, dass Menschen auch heute noch bereit sind, auf Befehl anderen Menschen schmerzhafte Stromschläge zu verpassen³.
Übertriebener Gehorsam zeigte sich auch in einer Studie, in der ein vermeintlicher, unbekannter Arzt dem Pflegepersonal per Telefon befahl, bestimmten Patienten eine gefährlich hohe Dosis eines Medikaments zu verabreichen, das noch nicht zum Einsatz an Patienten freigegeben war. Schockierende 95 Prozent des Pflegepersonals leisteten den Anweisungen folge⁵.
Und die Moral ...
Haben Sie schon einmal eine Anweisung befolgt und sich im Nachhinein gewünscht, Sie hätten es nicht getan? Was können wir tun, um erfolgreich Widerstand gegen unangebrachte Anweisungen von Autoritätspersonen zu leisten?
Zuallererst ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen und sorgfältig über die Anweisung und ihre Folgen nachzudenken. So hat sich der Vater im Märchen möglicherweise erst durch spätere Reflexion über die Tat und ihre Konsequenzen dazu entschlossen, seine Tochter zurückzuholen.
Des Weiteren erhöht das Wissen über die Stärke des Einflusses von Autorität und die zugrundeliegenden Mechanismen von Gehorsam die Fähigkeit, sich diesem Druck zu widersetzen⁵. Mit dem Wissen um den Einfluss von Autorität sollten Sie also besser in der Lage sein, unberechtigter Autorität entgegenzutreten, als jemand, der nicht mit diesem psychologischen Wissen ausgestattet ist.
Zu guter Letzt sinkt die Wahrscheinlichkeit von blindem Gehorsam besonders stark, wenn sich auch andere Personen widersetzen⁶. Da wir aber das Verhalten anderer Menschen schlecht beeinflussen können, sollten wir – wie so oft im Leben – bei uns selbst anfangen. Sprechen Sie es aus, wenn Sie mit etwas nicht einverstanden sind. Sie werden sich wundern, wie viele Menschen Ihnen folgen.
Es war einmal ...
In unserer Sommerserie 2017 stellen wir Ihnen neun Märchen unter dem Aspekt der psychologischen Analyse vor – und was wir für Mitarbeiterführung und Selbstmanagement daraus lernen können.
Quellen:
- ¹Afanasjew, A. N. (2001). Russische Volksmärchen. Ostfildern: Patmos.
- ²Milgram, S. (1963). Behavioral study of obedience. The Journal of Abnormal and Social Psychology 67, 371–378.
- ³https://books.apa.org/pubs/journals/releases/amp-64-1-1.pdf, https://www.eurekalert.org/pub_releases/2017-03/sfpa-ctm030917.php, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/milgram-experiment-fast-jeder…
- ⁴Hofling, C. K., Brotzman, E., Dalrymple, S., Graves, N., & Pierce, C. M. (1966). An experimental study in nurse-physician relationships. The Journal of Nervous and Mental Disease 143, 171–180.
- ⁵Richard, F. D., Bond, C. F. J., & Stokes-Zoota, J. J. (2001). That’s completely obvious… and important: Lay judgments of social psychological findings. Personality and Social Psychology Bulletin 27, 497–505.
- ⁶Rochat, F., & Modigliani, A. (1995). The ordinary quality of resistance: From Milgram’s laboratory to the village of Le Chambon. Journal of Social Issues 51, 195–210.
Buchtipp
Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können.