«Der Zusammenhalt war stark»
Antonio Racciatti, Leiter der Personalabteilung des Universitätsspitals Waadt (CHUV) in Lausanne, spricht über Massnahmen zum Schutz der 13'000 Mitarbeitenden während der Krise.
Was waren Ihre Prioritäten bezüglich Personalgesundheit, als der Bundesrat am 16. März 2020 die ausserordentliche Lage ausrief?
Antonio Racciatti: Wir hatten drei Prioritätsachsen: Zunächst kümmerten wir uns um die Beschaffung von Masken, Desinfektionsgel und Schutzkleidung. Danach stellten wir gefährdete Mitarbeitende per sofort frei und verlegten alle Aufgaben ins Homeoffice, die auch von ausserhalb des Spitals erledigt werden konnten.
Was war der zweite Schritt?
Die Teams zu verstärken, die am meisten Hilfe benötigten, unter Berücksichtigung der Gesundheit der Mitarbeitenden. So haben wir während der Pandemie eine Vielzahl der Mitarbeitenden an die vorderste Front versetzt – in die Intensivpflege und die Innere Medizin. Innerhalb einer Woche wuchs die Intensivstation so von 250 auf 900 Mitarbeitende. Zudem mussten wir die Arbeit so organisieren, dass die gesetzlich festgelegten Arbeitszeiten eingehalten werden. Wir wollten unbedingt vermeiden, dass diese Reorganisation zu einer zusätzlichen Belastung der Mitarbeitenden wird. Daher haben wir Verstärkung aus anderen Abteilungen hinzugeholt.
Einige Personen mussten somit andere Aufgaben übernehmen?
Ja. Wir haben Personal aus nicht-medizinischen Bereichen geholt, um bei logistischen und administrativen Aufgaben zu unterstützen. Am Ende haben mehr als 500 Menschen von heute auf morgen ihre Arbeit liegen gelassen, um uns beizustehen.
Welche weiteren Massnahmen haben sie noch getroffen?
Soziale, um die Mitarbeitenden bei ihrer täglichen Arbeit und bei Bedarf auch privat zu unterstützen. Aufgrund der Pandemie gerieten einige in finanzielle Schwierigkeiten, andere wiederum mussten sich allein um ihre Kinder kümmern. Deshalb haben wir innerhalb einer Woche eine kostenlose Notfall-Kinderkrippe für 400 Kinder eingerichtet. Sie ist von 6:30 bis 20 Uhr geöffnet. Die Mahlzeiten sind kostenlos. Zudem haben wir 400 kostenlose Unterkünfte für Grenzgänger geschaffen. Auch die Parkplätze stellten wir den Mitarbeitenden kostenlos zur Verfügung, damit sie keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen mussten.
Weiter haben wir einen Sozialfonds eingerichtet, der durch Spenden finanziert wird. Dieser Fonds diente dazu, Familien zu unterstützen, die aufgrund der Pandemie in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, weil die Partner unserer Mitarbeitenden teils von heute auf morgen kein Einkommen mehr hatten. Uns war es ein Anliegen, dafür zu sorgen, dass die privaten Sorgen den Alltag unserer Mitarbeitenden nicht noch zusätzlich erschweren. Zudem konnten wir zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Psychiatrie psychologische Unterstützung bieten.
Haben Sie auch die Kommunikation verstärkt?
Das war der rote Faden, der sich durch alle Massnahmen zog. Alle Mitarbeitenden sollten jederzeit über die Situation im Spital informiert sein: über die Anzahl der hospitalisierten Personen, Patienten und Patientinnen auf der Intensivstation, Todesfälle sowie die Entscheidungen der Geschäftsleitung zur Unterstützung des Personals. Diese transparente, tägliche Information war wichtig, um den Zusammenhalt zu stärken.
Das CHUV wurde 2019 mit dem Label «Friendly Work Space» von Gesundheitsförderung Schweiz ausgezeichnet. Welche Massnahmen haben Ihnen im vergangenen Jahr am meisten geholfen?
Alle Massnahmen zum Wohle der Gesundheit unserer Mitarbeitenden. Glücklicherweise hatten wir die Grundsteine für ein internes Mobilitätsmanagement bereits gelegt. Das hat uns sehr geholfen, Mitarbeitende von einer Stelle an eine andere zu versetzen und sie weiterzubilden. Ohne genaue Kenntnis der Profile und Ausbildungen unserer Teammitglieder hätten wir das Spital nicht so schnell umorganisieren können.
Im Dezember 2020 schlugen Sie auf Facebook Alarm, weil sich eine allgemeine mentale und körperliche Erschöpfung eingestellt habe. Hat sich die Situation heute stabilisiert?
Die Müdigkeit ist immer noch da, aber wir sehen Licht am Ende des Tunnels. Die Wirkung der Impfkampagne wird langsam sichtbar, insbesondere bei den Hospitalisierungen in der Altersgruppe der über 75-Jährigen. Wir müssen jedoch weiterhin vorsichtig bleiben. In unseren Nachbarländern war eine dritte Welle im Gange, während die Lage in der Schweiz unter Kontrolle war und immer noch ist. Beruhigend sind auch die unglaubliche Verbesserung der Patientenversorgung sowie die Entwicklung mehrerer Therapieansätze. Das Ende der Krise ist in Sicht und das beruhigt.
Was würden Sie bei der nächsten Pandemie anders machen?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn alles vorbei ist, müssen wir zuerst einmal in Ruhe die Lehren aus dieser Krise ziehen. Darin liegt wohl eines der grössten Mankos unserer Organisationen: Wir nehmen uns nie die Zeit, Bilanz zu ziehen. Es wäre aber schade, wenn wir aus dieser Pandemie nichts lernen würden. Auf gesellschaftlicher Ebene war der Fehler wohl, dass wir letzten Sommer zu schnell in unserer Wachsamkeit nachgelassen haben.
Ich sehe derzeit nicht, was wir im Spital hätten anders machen können. Im Gegenteil, die schlanken Führungsstrukturen, die Reaktionsfähigkeit und die sehr klare Rollen- und Aufgabenverteilung haben es uns ermöglicht, das Spital in Rekordzeit umzuorganisieren – trotz seiner Grösse und Komplexität. Es wäre schön, wenn wir diese Dynamik auch nach der Krise in irgendeiner Form beibehalten könnten.
BGM-Tagung – Fit für die Zukunft: BGM für junge Arbeitnehmende
Die Arbeitswelt verändert sich kontinuierlich, und damit verändern sich auch die Anforderungen an die Arbeitnehmenden. Vor allem junge Arbeitnehmende sehen sich einem zunehmenden Leistungsdruck und erhöhten Erwartungen ausgesetzt. Zeitgleich verändern sich aber auch die Kompetenzen und Erwartungen der jungen Arbeitnehmenden an die Arbeitgebenden. So haben diese neuartigen Vorstellungen von einem erfüllten Arbeitsleben und stellen hohe Anforderungen an die Arbeitgebenden, besonders auch in Bereichen, in denen ein Unternehmen mit gezielten BGM-Massnahmen viel bewirken kann. Doch wie sollen diese Massnahmen und Rahmenbedingungen aussehen, damit sich junge Arbeitnehmende bestmöglich entfalten und gesund bleiben können? Wie können die langfristige Leistungsfähigkeit, die Motivation und insbesondere die Gesundheit der jüngeren Mitarbeitenden aktiv und kontinuierlich gefördert werden, ohne diese zu überfordern?
An der virtuellen BGM-Tagung am 1. September 2021 treffen Experten aus Wissenschaft, Politik und Praxis – wie beispielsweise Antonio Racciatti (siehe Interview) – und junge Arbeitnehmende aufeinander und diskutieren, wie Unternehmen diesen unterschiedlichen Herausforderungen begegnen können. Aufgegriffen werden auch gesundheitsrelevante Subthemen, um dieses wichtige Thema in seiner ganzen Breite zu beleuchten und letztlich die Teilnehmenden zu befähigen, die Gesundheit von Jugendlichen im betrieblichen Umfeld zu stärken.
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