Im Gespräch mit Michael Sitte

«Die Datenanalyse ermöglicht eine umfassende Betrachtung des HR»

Michael Sitte, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, betont die wachsende Bedeutung von Datenanalyse und Predictive Analytics (vorausschauende Analytik) im HR-Management. Unternehmen, die datengetriebene Entscheidungen treffen, sichern ihren Geschäftserfolg in einem zunehmend wettbewerbsorientierten Umfeld.

Herr Sitte, wie sind Sie zum Thema Datenanalyse und Predictive Analytics gekommen?

Michael Sitte: Ich habe mich bereits früh damit beschäftigt. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Personalmanagement und Organisation arbeitete ich an HR-Analysen und promovierte zur Analyse von Stakeholder-Netzwerken im HR-Management (HRM). Mein Interesse an diesen Themen begann also früh und als ich später die Hochschule verliess, übernahm ich meine erste Rolle als Manager für HR Analytics bei der Aduno Gruppe (heute Viseca). Dort war ich für den Aufbau und die Weiterentwicklung des Personalcontrollings sowie weiterer Themen, von der Prozessoptimierung über das Personalmarketing bis hin zum betrieblichen Gesundheitsmanagement, zuständig. Damals war das Thema Datenanalyse relativ neu und ich konnte von Anfang an meine wissenschaftlich-analytischen Erfahrungen im Alltag anwenden. Mit der Zeit sammelte und analysierte ich Daten intuitiv aus unterschiedlichen HR-Disziplinen, vernetzte mich extern und tauschte mich fachlich aus. Diese Erfahrungen konnte ich nach meiner Zeit bei Aduno in verschiedenen Unternehmen einbringen und später in meiner Lehrtätigkeit weiterentwickeln. In den Bachelor-Programmen und der HR-Weiterbildung habe ich entsprechende Schwerpunkte gesetzt und das Interesse bei Studierenden und Weiterbildungsteilnehmenden ist gross.

Woher kommt Ihre Faszination für das Thema?

Sitte: Die Datenanalyse ermöglicht eine umfassende Betrachtung des HRM – das fasziniert mich. Schon bei Reportings in der Geschäfts­leitung wird erwartet, dass man seitens der HR-Abteilung Antworten auf alle Fragen hat, sei es zur Personalentwicklung, zum Recruiting oder zur Fluktuation. Man muss sich intensiv mit diesen Themen auseinandersetzen, was oft über das HRM hinausgeht. Diese thematische Verbindung und die Möglichkeit, Analysen vorzunehmen, machen mir besonders Freude. Es geht nicht nur darum, Daten zu sammeln und zu analysieren, sondern auch darum, die Auswirkungen auf die gesamte Organisation zu verstehen und Handlungsempfehlungen abzuleiten, die für die strategische Ausrichtung des HRM und des Unternehmens von Bedeutung sind.

Michael Sitte

Michael Sitte ist Professor für Human Resource Management am Institut für Personalmanagement und Organisation der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Er ist sowohl in der Forschung und Beratung als auch in der Aus- und Weiterbildung tätig. Sein inhaltlicher Schwerpunkt liegt im HRM und OB sowie im BGM und HR Analytics. Michael hat umfangreiche Erfahrungen in der Verantwortung und im Aufbau von HR-Datenanalyse in Unternehmen und ist Mitglied im Sounding Board des Vereins Swiss HR Analytics. fhnw.ch

 

Erklären Sie bitte kurz, was unter Datenanalyse und Predictive Analytics im HRM zu verstehen ist.

Sitte: Datenanalyse ist ein Grundelement im HRM, das wir schon immer genutzt haben, zum Beispiel durch die Erfassung von Headcounts. Predictive Analytics ist eine weiterführende Stufe im Reifegradmodell. Sie ermöglicht es, basierend auf vorhandenen Daten zukünftige Entwicklungen vorherzusagen. Es geht darum, die Informationslage zu bewerten und den Blick nach vorne zu richten, um Entwicklungen wie zum Beispiel die demografische Veränderung bei Mitarbeitenden und im Arbeitsmarkt vorherzusehen. Man muss dafür kein Data Scientist sein; oft reichen einfache Datenpunkte aus, um erste Prognosen zu erstellen und eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, die zu besseren Entscheidungsprozessen führt.

Können Sie erfolgreiche Praxisbeispiele für Predictive Analytics nennen?

Sitte: Ein Beispiel ist die Entwicklung eines Systems, das die Kündigungswahrscheinlichkeit von Mitarbeitenden anzeigt. Dies gibt Führungskräften die Möglichkeit, gezielt Gespräche zu führen und ungewollter Fluktuation präventiv zu begegnen. Ein weiteres Anwendungsfeld ist die Prognose von gesundheitsbedingten Ausfällen, um Bereiche mit hoher Belastung zu identifizieren und präventive Massnahmen zu ergreifen. Solche Anwendungen machen HR handlungsfähiger und ermöglichen es, aktiv auf Herausforderungen zu reagieren. Diese Beispiele zeigen, wie Predictive Analytics helfen kann, strategische Entscheidungen zu treffen und proaktiv auf sich abzeichnende Herausforderungen zu reagieren, bevor sie zu grösseren Problemen werden.

Welche Daten sind im HRM besonders wertvoll?

Sitte: Das hängt ganz von der Fragestellung ab. Ich bin kein Fan davon, wahllos Daten zu analysieren. Stattdessen sollten man sich auf relevante Fragen konzentrieren und analysieren, welche Daten benötigt werden, um diese zu beantworten. Zentrale Fragestellungen ergeben sich oft aus der HR-Strategie, etwa bei Herausforderungen wie der Rekrutierung, dem drohenden Wissensverlust oder vermehrten Krankheitsabwesenheiten. Die wertvollsten Daten sind also jene, die dabei helfen, diese Fragen zu beantworten.

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«Man muss kein Data Scientist sein; oft reichen einfache Datenpunkte aus, um erste Prognosen zu erstellen und eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, die zu besseren Entscheidungsprozessen führt.»

 

 

 

Was muss bezüglich Datenhygiene beachtet werden?

Sitte: Sowohl technische als auch organisatorische Aspekte: Woher kommen die Daten, wo werden sie gespeichert und wer hat die Verantwortung respektive die Data Ownership? Qualitätssicherung und regelmässige Aktualisierungen sind entscheidend, insbesondere in komplexen HR-Systemlandschaften. Es ist deshalb wichtig, kompetente Ansprechpartnerinnen und -partner zu haben, die sicherstellen, dass die Daten qualitativ hochwertig und korrekt sind. Die Datenqualität ist entscheidend für erfolgreiches Predictive Analytics. Ausserdem müssen Unternehmen sicherstellen, dass die Daten in einer Form vorliegen, die eine einfache und effiziente Analyse ermöglicht, um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen.

Lohnt es sich, alte Daten aufzuarbeiten, oder beginnt man besser gleich ganz neu?

Sitte: Die Anschlussfähigkeit von Daten ist wichtig, aber sie hängt von ihrer Form und Relevanz ab. Wenn historische Daten für aktuelle Fragestellungen relevant sind, kann es durchaus sinnvoll sein, sie zu analysieren. Ein Neustart klingt natürlich gut und einfacher, aber man sollte abwägen, ob alte Daten nicht doch nützlich sind. Beispielsweise sollten bei der Einführung neuer Systeme Daten überführt werden, um historische Vergleiche zu ermöglichen. Alte Daten können wertvolle histo­rische Trends aufzeigen, die für zukünftige Prognosen nützlich sind. Die Entscheidung, alte Daten zu nutzen oder neu zu beginnen, sollte deshalb auf einer gründlichen Kosten-Nutzen-Analyse basieren, die die Potenziale und Herausforderungen der Datenaufarbeitung be- rücksichtigt.

Welche Herausforderungen bestehen bei der Nutzung von Daten?

Sitte: Eine der grössten Herausforderungen ist die Datenqualität und die Befähigung der Mitarbeitenden. Viele Unternehmen schaffen technologische Voraussetzungen, ohne die Datenqualität sicherzustellen. Die Daten müssen aktualisiert werden und die HR-Mitarbeitenden in der Lage sein, mit diesen zu arbeiten. Die technischen Voraussetzungen sind wichtig, aber der menschliche Aspekt ist entscheidend, damit Datenanalysen erfolgreich sind. Es erfordert Schulungen und Weiterbildungen, um sicherzustellen, dass die HR-Mitarbeitenden über die notwendigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, die Daten effizient zu nutzen, zu interpretieren und in handlungsrelevante Massnahmen zu überführen. Das ist von zentraler Bedeutung, um den maximalen Nutzen aus den Datenanalysen zu ziehen.

Welches Know-how braucht es dafür?

Sitte: HR-Professionals müssen nicht alle gleich zu Data Scientists werden, aber es braucht ein grundlegendes Verständnis für Datenanalysen. Viele Analyse-Softwares sind mittlerweile intuitiv, sodass keine höheren Statistikkenntnisse erforderlich sind. Wichtig ist, dass HR-Professionals die üblichen HR Reportings lesen und vor allem verstehen können. Die Fähigkeit, Daten zu interpretieren und darauf basierend Entscheidungen zu treffen, ist ausschlaggebend. Neugier und Freude am Umgang mit Daten sind ebenfalls wichtig, um eine Datenkultur zu entwickeln.

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«KI ist kein Ersatz für menschliche Entscheidungen, sondern ein Werkzeug, das die Analyse unterstützt.»

 

 

 

 

Wie sieht es Ihrer Meinung nach mit der Offenheit von HR-Professionals für Daten aus?

Sitte: Ich erlebe sowohl Offenheit als auch Zurückhaltung. Einige HR-Professionals ziehen sich zurück, weil sie propagieren, dass sie sich mehr für Menschen als für Daten interessieren. Nach Gesprächen stellen viele fest, dass sie bereits Kennzahlen nutzen, was einen wichtigen Aha-Effekt darstellt. Dieser Schritt kann helfen, vermeintliche Verhinderer zu Unterstützern zu machen. Wenn HR-Professionals erkennen, dass Datenanalysen sie in ihrer Arbeit unterstützen und strategische Einblicke liefern, steigt oft ihr Interesse und damit die Bereitschaft, sich intensiver mit diesem Thema zu beschäftigen.

Welche technischen Voraussetzungen braucht es für Datenanalysen?

Sitte: Technologische Lösungen sind nur ein Aspekt. Es gibt viele fortschrittliche Analysetools, aber ohne die entsprechende Datenqualität und Befähigung der Mitarbeitenden kann das Potenzial nicht ausgeschöpft werden. Die menschliche Komponente ist entscheidend, damit die Technologie ihre Wirkung entfalten kann. Die Unternehmen müssen sicherstellen, dass ihre Mitarbeitenden die notwendigen Fähigkeiten haben, um mit den Analysetools effektiv zu arbeiten. Dazu gehört auch, dass die technologischen Systeme benutzerfreundlich und zugänglich sind, um eine breite Akzeptanz innerhalb der Organisation zu fördern und den Einsatz von Datenanalysen zu optimieren.

Wie kann bei Datenanalysen sichergestellt werden, dass sie nicht zu Diskriminierungen führen?

Sitte: Um Diskriminierung zu vermeiden, muss zunächst der Personenbezug in den Analysen aufgelöst werden. Daten müssen anonymisiert sein, ohne identifizierende Merkmale. Dies ist eine wichtige Basis für faire und diskriminierungsfreie Analysen. Darüber hinaus müssen sich Unternehmen ihrer ethischen Verantwortung bewusst sein und diese in ihre Datenanalysen einbeziehen. Hierfür empfiehlt es sich, ein sogenanntes Ethics Commitee zusammenzustellen, welches Analyseprojekte hinterfragt und sicherstellt, dass Analysen den ethischen Grundsätzen des Unternehmens entsprechen und auch zur Kultur passen.

Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz bei Data Analytics?

Sitte: KI kann statistische Modelle unterstützen, die früher manuell erstellt werden mussten. Sie ermöglicht effizientere Berechnungen, aber die menschliche Komponente bleibt entscheidend. KI wird in verschiedenen Bereichen des HR eingesetzt, wie zum Beispiel in Chatbots. Unternehmen sollten Spezialistinnen und Spezialisten hinzuziehen, um das Potenzial von KI in der Datenanalyse optimal zu nutzen. KI ist kein Ersatz für menschliche Entscheidungen, sondern ein Werkzeug, das die Analyse unterstützt. Durch den Einsatz von KI können Unternehmen tiefere Einblicke in ihre Daten gewinnen und diese Erkenntnisse nutzen.

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«Die Kombination von technologischen Fortschritten und menschlicher Expertise wird entscheidend sein, um erfolgreich zu sein.»

 

 

 

Wie unterscheiden sich die Möglichkeiten von Grossfirmen und KMU bei der Analyse von Daten?

Sitte: Grossunternehmen nutzen oft technologieorientierte Lösungen und Analysesoftware, während KMU schneller mit relevanten Entscheidungsträgerinnen und -trägern kommunizieren und Massnahmen umsetzen können. Diese Flexibilität macht KMU oft innovativer. Sie sind in der Lage, schnell neue Strategien zu testen und Entscheidungen auf Basis qualitativer Daten und persönlicher Gespräche zu treffen. In Grossunternehmen erfordert die Umsetzung oft längere Entscheidungsprozesse und mehrere Analyserunden. KMU profitieren davon, dass sie oft direkteren Zugang zu Entscheidungsträgerinnen und -trägern haben und schneller auf veränderte Marktbedingungen reagieren können.

In welche Richtung wird sich die Entwicklung von Data Analytics und Predictive Analytics bewegen?

Sitte: Die technologische Entwicklung wird Data Analytics weiter vorantreiben und die Nutzung von qualitativen Daten weiter zunehmen. Themen wie demografische Entwicklungen und Fachkräftemangel werden die Relevanz von Data Analytics im HR erhöhen. Unternehmen müssen handlungsfähig sein und Massnahmen entwickeln, um zukünftige Herausforderungen zu bewältigen. Die Kombination von technologischen Fortschritten und menschlicher Expertise wird entscheidend sein, um erfolgreich zu sein.

Was bietet Ihr Fachkurs «Datenanalyse im HRM – Einstieg in HR Analytics»?

Sitte: Der dreitägige Kurs bietet eine Einführung in die Datenanalyse im HR, mit dem Ziel, den Teilnehmenden die Grundlagen zu vermitteln, eigene Analyseprojekte zu starten. Er umfasst theoretische und praktische Komponenten, darunter die Entwicklung eines eigenen Analyseprojekts, Stakeholder-Management und die Sicherstellung der Datenqualität. Der Kurs fördert die Neugier und die Bereitschaft, sich mit Daten auseinanderzusetzen, und bietet Unterstützung durch Peer-Feedback und Community-Building. Die Teilnehmenden lernen, wie sie Daten sinnvoll nutzen können, um ihre HR-Entscheidungen zu verbessern und strategische Einblicke zu gewinnen, die für den Erfolg ihrer Organisation entscheidend sind.

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Daniel Thüler

Daniel Thüler, Chefredaktor HR Today, daniel.thueler@hrtoday.ch

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