Die Perspektive wechseln
Talentmanagement ist eines von vielen HR-Schlagworten. Doch sind damit tatsächlich immer nur jüngere Mitarbeitende gemeint? Wir haben drei Firmen dazu befragt.
«Talent ist keine Frage des Alters, Menschen verlieren es ja nicht auf dem Karriereweg.» Sebastian Risi, Talentmanager, Allianz Suisse. (Bild: iStock)
«Niemand ist eins, aber jeder hat eins», definiert Sebastian Risi, Talentmanager, Senior People and Performance Management bei der Allianz Suisse, das Wort Talent. «Unsere Aufgabe im HR besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die unseren Mitarbeitenden ermöglichen, ihre Talente zu nutzen.» Talent sei zudem keine Frage des Alters, «Menschen verlieren es ja nicht auf dem Karriereweg». Ü45 fänden sich deshalb bei der Allianz durchgehend in allen Entwicklungs-programmen und Nachfolgeplänen.
Auch für Patrick Stolz, Leiter Human Resources bei UBS Schweiz, ist Talent keine Frage des Alters. Dieses sei auch kein Ausschlusskriterium für das Key-Talentprogramm der Bank, das dazu diene, Mitarbeitende zu entwickeln, die das Potenzial und den Willen hätten, in absehbarer Zeit einen Entwicklungsschritt zu machen. Um neue Erfahrungen zu sammeln, müsse jemand nicht unbedingt an diesem oder einem anderen Förderprogramm teilnehmen: «Mitarbeitende können eine andere Rolle im Team übernehmen oder in einen anderen Bereich wechseln. Es gibt aber auch Beschäftigte, die in einer späteren Berufsphase nicht mehr die gleiche Funktion und Verantwortung wahrnehmen können oder wollen», erklärt Stolz.
Starre Entwicklungspläne haben ausgedient
Die statische Personalentwicklung mit einem starren Entwicklungsplan wurde bei Swiss Life, UBS und Allianz Suisse weitgehend ad acta gelegt. Doch haben Berufsorientierungen von Ü45-Jährigen in diesem Zusammenhang ausgedient? «Nein, absolut nicht. Die Standortbestimmung soll dazu anregen, sich mit der eigenen beruflichen Entwicklung auseinanderzusetzen», gibt Patrick Stolz zu bedenken. Aufgrund der längeren Lebensarbeitszeit durch den demografischen Wandel müssten sich ältere Mitarbeitende zunehmend Gedanken machen, wie sie die zweite Hälfte ihres Berufslebens gestalten wollen.
Dass sich diese nicht nur für Menschen ab der Lebensmitte eignen, bestätigen Claudia Dahinden, HR-Managerin und Projektleiterin für strategische HR-Projekte bei Swiss Life, und Sebastian Risi, Talentmanager bei der Allianz Suisse. «Karrieren verlaufen nicht nur gradlinig und erreichen ihren Höhepunkt nicht kurz vor der Pensionierung», weiss Stolz. «Ganz im Gegenteil. Grosse Karriereschritte erfolgen tendenziell früher in der Berufslaufbahn. Regelmässige Entwicklungsgespräche sind deshalb bei jüngeren Mitarbeitenden besonders wichtig.»
Damit Beschäftigte nicht von der Entwicklung im Unternehmen abgehängt werden, appellieren die befragten Unternehmen an die Selbstverantwortung ihrer Mitarbeitenden. «Es ist mehrheitlich deren Sache die eigene Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten und beruflich voranzukommen. Mitarbeitende müssen ihre Ambitionen sichtbar machen», sagt Risi. Seine Karriere eigenverantwortlich zu gestalten, heisst für den HR-Chef von UBS Schweiz, Patrick Stolz, sich mit der Zukunft zu befassen und wenn nötig, die eigene Komfortzone zu verlassen. Beispielsweise, indem ein Bankmitarbeitender die Geschäftseinheit oder die Division wechselt, in einer anderen Sprachregion der Schweiz oder im Ausland arbeitet oder Aufgaben übernimmt, für die er sich begeistert und sich dafür das notwendige Fachwissen innert kurzer Zeit aneignet.
Alterskarrieren wenig ausgereift
Inwiefern brauchen ältere Arbeitnehmende besondere Unterstützung, um beruflich am Ball zu bleiben? Darüber gehen die Meinungen auseinander. «Allgemein besteht wenig Wissen darüber, wie über 50-Jährige in den Betrieben entwickelt und gefördert werden sollen», sagt Sebastian Risi. Zwar bietet die Allianz Suisse bereits Kurse zu Themen an, die vor allem Ü45 und Ü60 beschäftigen. Etwa: «Wie gehe ich mit dem Älterwerden um?»
Künftig solle die Entwicklung von älteren Mitarbeitenden aber strategischer verankert werden. Der Versicherer beteiligt sich deshalb am Forschungsprojekt «Late Careers» der Fachhochschule St. Gallen und Nordwestschweiz. «Mit dieser Kooperation erhoffen wir uns, neue Erkenntnisse zum Weiterbildungsverhalten der Ü50 zu gewinnen, um so Mitarbeitende in späten Karrieren gezielter zu unterstützen. Ausserdem wollen wir Arbeitsmodelle schaffen, die sich nach Lebensphasen orientieren und somit auch Ü50 ansprechen.»
Ein solches Modell und eine solche Haltung existiert bei Swiss Life bereits. «Wir reden nicht mehr vom Jahrgang eines Mitarbeitenden», sagt Claudia Dahinden. Stattdessen setzt der Versicherer mit der Initiative «Berufsleben aktiv gestalten» auf ein Personalentwicklungsmodell, das alle Berufstätigen gleichermassen ansprechen soll, egal ob 30-jährige Mütter und Väter, Mitarbeitende, die ein Sabbatical planen, oder 50-Jährige, die ihre Eltern pflegen. Seine Beschäftigten unterstützt der Versicherer bei der Karriereplanung unter anderem mit einem E-Coaching-Tool, das ihnen ermöglicht, ihre Arbeitsmarkt- und Arbeitsfähigkeit auf spielerische Art und Weise nach der Design-Thinking-Methode, einem Ansatz zur Ideenfindung, zu reflektieren und eine berufliche Vision zu entwickeln.
Dieses sei wiederum die Ausgangsbasis, um weitere berufliche Schritte festzulegen. «Unabhängig davon, ob diese innerhalb oder ausserhalb des Unternehmens erfolgen.» Um ältere Mitarbeitende über alle Lebenszyklen für solche Entwicklungsprogramme zu begeistern, müsse man sie zielgruppengerecht ansprechen und an ihre Bedürfnisse anknüpfen. Etwa, indem von individuellen «Berufsphase» statt vom «Alter» gesprochen wird.
UBS hat mit dem «Career Navigator» ebenfalls jüngst ein solches Karrieretool für alle Mitarbeitenden lanciert. Mit eigenen Worten: «ein GPS für die persönliche Karriere». Darin werden nicht nur offene Stellen angezeigt, Mitarbeitende können dort auch ihren Lebenslauf hochladen sowie ihre Karriereziele und -präferenzen eingeben. Aufgrund der angegebenen Fähigkeiten, Kenntnisse, Karriereziele oder Berufswege anderer Mitarbeitender schlägt das Tool offene Stellen im angestrebten Bereich und Lerninhalte vor, die den Beschäftigten dazu dienen, sich die fehlende Kompetenzen mit Kursen anzueignen. «Damit entdecken Mitarbeitende ihre persönlichen Stärken und vielleicht auch neue Karrieremöglichkeiten», erklärt Patrick Stolz.
Doch das Programm dient nicht nur der persönlichen Entwicklung der Mitarbeitenden, es wird zunehmend auch als Recruiting-Instrument genutzt: «Wir fördern die interne Mobilität und Agilität. Dadurch können Mitarbeitende in anderen Organisationseinheiten Erfahrungen sammeln und sich neue Fähigkeiten aneignen.» Zum Gewinn der Bank und deren Kunden. Die Nutzerzahlen entwickeln sich positiv: Seit der Einführung im Sommer 2019 wurde es bereits 56 000 Mal aufgerufen und mehr als 200 Mitarbeitende haben sich darüber um eine interne Stelle beworben.
UBS richtet ihren Fokus gezielt auch auf ältere Beschäftigte. So hat die Bank mit «Lebenslanges Lernen» 2013 ein Programm eingeführt, das über 42-jährige Bankangestellte anspricht und eine Standortbestimmung mit Einzelcoachings sowie verschiedene Seminare umfasst. Etwa solche zum Self-Branding und Networking, Umgang mit sozialen Medien, zur Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden unterschiedlicher Generationen, Entwicklung einer persönlichen Change-Management-Strategie, zur Komplexität und Problemlösung oder zu E-Learnings zu den digitalen Bankprodukten.
Späte Karriere
Personalentwicklung in älteren Jahren oder spätere Karrieren sind nicht nur möglich, sondern auch gewünscht. Erfolgsbeispiele gibt es einige. Etwa bei Swiss Life, wo ein Endfünfziger seine Führungsaufgabe abgibt, um im selben Team die Rolle eines Projektleiters einzunehmen, während ein jüngeres Teammitglied die Leitung übernimmt. «Auf gegenseitigen Wunsch», betont Claudia Dahinden. «Die beiden wollten weiterhin zusammenarbeiten, voneinander lernen und den Bereich in ihren neuen Rollen entwickeln.»
Auch bei der Allianz Suisse kam es im HR zum Rollentausch: Der Leiter Learning, Development and Change schlüpfte in die HR-Business-Partner-Rolle seiner Kollegin, während sie seine Führungsfunktion übernahm. Was als vorübergehender Wechsel angedacht war, entpuppte sich als permanente Lösung. «Damit haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen», freut sich Sebastian Risi.
«Neues zu lernen macht einfach Spass»
Image Herr Etter, Sie haben Anfang 2019 bei der Allianz Suisse im Alter von 52 Jahren ihren Job als Leiter Learning, Development and Change mit einer Kollegin getauscht und sind nun HR-Businesspartner. Wie kam es dazu?
Matthias Etter: Als ich nach zehn Jahren in derselben Funktion ein Sabbatical gemacht habe, kam für mich die Frage auf, ob ich nochmals zehn Jahre als Leiter Learning, Development and Change tätig sein oder etwas Neues anfangen will. Zusammen mit einem Coach bin ich den Fragen nachgegangen, wie ich meine Kompetenzen und beruflichen Erfahrungen in einer anderen Rolle einbringen kann. Vorerst ging es darum, Handlungsfelder zu eröffnen und meinen Denkraum zu erweitern. Durch diese Auseinandersetzung kam ich zum Schluss, mein Tätigkeitsfeld zu erweitern.
Der Jobtausch bot mir die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, ohne meine alte Rolle endgültig aufgeben zu müssen. Die positive und offene Haltung der Allianz Suisse gegenüber meinem Unterfangen war für mich ein starkes Signal für meine Entwicklungspläne.
Was hat Ihnen bei Ihrem Entwicklungsschritt am meisten Freude gemacht?
Aus HR-Sicht bei konkreten Fragestellungen und Anliegen mitdenken und mitsteuern zu können und damit einen Mehrwert zu schaffen. Das ist enorm befriedigend und gibt mir viel Sinn. Mit neuem Wissen an bisherige Führungserfahrungen anzuknüpfen, ist zusätzlich sehr motivierend.
Was war Ihr grösstes Learning?
Der Perspektivenwechsel hat meine Sicht der Dinge relativiert. Meine Einschätzung, welche HR-Aktivitäten Priorität haben, hat sich verändert, ebenfalls die Art und Weise meiner Argumentation. Neues zu lernen macht einfach Spass und gibt mir neue Energie. Ausserdem gibt es sehr viele hilfsbereite Menschen, die konstruktiv mit meinen Fragen umgehen. Zu guter Letzt bringt die Verknüpfung von unterschiedlichen HR-Disziplinen und Wissen innerhalb des HR auch dem Unternehmen einen klaren Mehrwert.
Ihr Tipp an über 50-Jährige, die einen Karrierewechsel planen?
Generelle Tipps abzugeben, ist immer schwierig. Für mich war jedoch hilfreich, meine eigene Befindlichkeit ehrlich wahrzunehmen und ernst zu nehmen und meinen Spielraum – auch den finanziellen – zu definieren. Man muss den Mut haben, seinen Veränderungswunsch anzusprechen, und darauf vertrauen, dass die Vorgesetzten und die Organisation konstruktiv mit einem solchen Anliegen umgehen. Mir hat geholfen, nach beruflichen Optionen mit einem kalkulierbaren Risiko Ausschau zu halten, die ausserhalb des «Alles oder nichts» liegen. Wichtig ist zudem der Wille, sein Wissen à jour zu halten.