Kommentar

Die Tücken flacher Hierarchien

In Stellenanzeigen schreiben Unternehmen von «flachen Hierarchien» und wollen damit Kandidaten anlocken. Gleichzeitig hält sich bei vielen Managern die Ansicht, dass flache Hierarchien unweigerlich zu Anarchie führen. Dabei ist eine offene Unternehmenskultur keine Utopie. Doch ebenso wenig ist sie ein Allheilmittel.

Streng bemessene Pausen, wenig Eigenverantwortung, dafür von oben erteilte Aufgaben – und immer schön über die schlechten Witze des Chefs lachen. In mancherlei Hinsicht ähnelt der Büroalltag einem Schulbetrieb mit vielen ungeschriebenen Verhaltensnormen sowie strengen Geboten und Verboten.

Auch die Leistungsbeurteilung findet in der Regel durch eine Person statt, die für eine grössere Gruppe zuständig ist und damit genauso subjektiv Beurteilungen fällt wie einst der Lehrer in der Schule.

Flache Hierarchien als Papiertiger

Doch wenn von der Geschäftsleitung die Order kommt, dass man nun an einem neuen Führungsstil mit flachen Hierarchien und mehr Handlungsspielräumen für die Mitarbeiter feilt, ist der Jubel gross. Umso grösser die Enttäuschung, wenn sich das neue Konzept als Papiertiger erweist und die Belegschaft auf Glassdoor oder Kununu ihrem Ärger darüber Luft macht, dass im Grunde alles beim Alten geblieben ist – nur, dass es nun ein bisschen chaotischer zugeht, weil keine geregelte Aufgabenverteilung mehr vorliegt.

Bis heute hält sich bei vielen Managern die Meinung, die Übertragung von Verantwortung und Freiräumen an die Belegschaft führe zu Anarchie. Diese Ansicht hat sich inzwischen so verhärtet, als wäre sie ein unumstössliches Naturgesetz.

Flache Hierarchien führen zu kürzeren Entscheidungswegen, einer höheren Reaktionsgeschwindigkeit und weniger Personalkosten durch die Verkleinerung des mittleren Managements. Agile Unternehmensführung ist eine Form des Lean Managements und soll Verschwendungen minimieren und geistige und materielle Ressourcen bündeln.

Wie schwer aber der kulturelle Wandel ist, zeigten bereits die zaghaften Schritte von Industriekapitänen wie Dieter Zetsche, der nun auf die Krawatte verzichtet – dem einstigen Machtsymbol wichtiger Manager. Auch der gebeutelte Vorstand von VW hat Managern das Vorrecht gestrichen, als erste einen freien Fahrstuhl nutzen zu dürfen. Aber schafft das wirklich eine agile Unternehmenskultur oder handelt es sich hier nur um kosmetische Eingriffe?

Keine Boni, keine Vorgesetzten

Rolf Schrömgens, Gründer und CEO von Trivago, hat ganz konkrete Konzepte, wenn es um die Umsetzung von mehr Handlungsfreiheit und flachen Hierarchien geht. So plädiert der Unternehmer dafür, dass finanzielle Anreize für die Mitarbeiter genauso zu streichen wie klassische Vorgesetzte. Klingt gewagt – aber dahinter steckt der Gedanke, dass es in der Berufswelt des 21. Jahrhunderts eine Unterscheidung zwischen Rolle und Aufgabe geben sollte. Erstes ist gespielt, zweites muss erledigt werden und ist definitiv wichtiger.

Macht und Umsetzung sind eben nicht zwangsläufig miteinander verzahnt – die Motivation soll intrinsisch und nicht extrinsisch erfolgen. Daher auch keine Boni, weil Studien¹ bereits mehrfach belegt haben, dass rein finanzielle Anreize nur einen kurzfristigen Effekt auf die Angestellten ausüben. Die persönliche Entwicklung des Mitarbeiters dagegen ist eine Investition in die Zukunft. Gleichwohl ist der Wandel auch hier schwierig und die Wahrnehmung der Mitarbeiter sieht doch oft anders aus.

Freiheiten als Lockmittel

Auch wenn die hierarchiefreien Strukturen tatsächlich erfolgreich umgesetzt werden, bergen sie Tücken. Nehmen wir an, ein kleines Start-up arbeitet als ein Team ohne Chefs und Teamleader. Auf diese Weise ergeben sich nur wenige Karrieremöglichkeiten für den einzelnen Mitarbeiter. Motivation durch Beförderungen fällt in diesem Fall weg.

Freiheiten sind daher oft ein Lockmittel, um junge engagierte Kräfte zu ködern. Aber bieten wenig Substanz, um High-Performer langfristig zu halten. So ist es mit den komplett flachen Hierarchien ein bisschen wie ein Klein-Sozialismus im Büro: Alle sind gleich, aber am Ende wollen einige doch irgendwie gleicher sein.

Zudem stellt sich oft heraus, dass die agilen Strukturen nicht beliebig skalierbar sind. Je mehr das Unternehmen wächst, umso mehr sehen die Gründer ein, dass es ab einem bestimmten Stadium doch einen Kapitän braucht, der den Kurs vorgibt. Je höher eine Firma auf den Berg des Erfolges steigt, umso mehr kristallisieren sich plötzlich auch intern die Sprossen der Karriereleiter für die einzelnen Mitarbeiter ab.

Doch dann wird es problematisch, denn eine hierarchische Struktur in eine zuvor lockere und offene Betriebsatmosphäre einzubetten, stösst auf viel Unverständnis von Seiten der Belegschaft – wurde doch zuvor eine ganz andere Philosophie beschworen. Wesentlich einfacher ist es, aus einer Arbeitsorganisation mit klaren Führungsebenen und -kompetenzen nach und nach einzelne Freiräume zu gewähren, bis man den idealen Grad erreicht hat.

Auch flache Hierarchien brauchen Entscheider

Traditionelle Hierarchien mit klaren Entscheidungsketten bedeuten eben auch nicht gleich Versklavung der Mitarbeiter. Auch hier kann das Team sich bis zu einer gewissen Dosierung frei entfalten. Gleichzeitig gibt es bei schwierigen Entscheidungen immer einen verantwortlichen Leiter, der am Ende die Richtung vorgibt, bevor es zu einer chaotischen Strukturlosigkeit kommt, bei der jeder Mitarbeiter seine Position neu definiert wissen will.

Die meisten Freigeister vergessen, dass sich in hierarchiefreien Firmen schnell ein Machtvakuum bilden kann, welches unkontrollierbare und nur schwer messbare Schattenstrukturen hervorbringt. Im schlimmsten Fall könnte eine Art «Staat im Staat» entstehen. Es muss also trotz allem immer eine Entscheidungsrangordnung geben, denn eine Organisation ab einer gewissen Grösse wird sich mit der Umsetzung von Ideen schwertun, wenn es keine klare Entscheidungshoheit gibt. Im Unterschied zu herkömmlichen Strukturen kann diese natürlich variieren, je nach Thema oder Projekt. Aber sie muss definiert werden.

Handelt es sich beispielsweise um die Entwicklung von Ideen, besteht für eine Entscheidungshoheit kein Bedarf. Geht es aber etwa darum, ein Budget zu verwalten, ergibt eine klare Entscheidungsmacht sehr wohl Sinn. Von flachen Hierarchien können – wie bereits gezeigt – viele reden, aber wenn ein Projekt mit dickem Budget in den Sand gesetzt wurde, wird man kaum die ganze Belegschaft in Sippenhaft nehmen können, sondern sucht den verantwortlichen Projektleiter. Am Ende werden immer Köpfe rollen; da sollte man sich keiner Illusionen hingeben.

Auf den Punkt gebracht kann man sagen: Flache Hierarchien fördern die Kreativität und die Flexibilität – sind daher in kleinen und dynamischen Unternehmen wie Start-Ups gut geeignet. Traditionelle Entscheidungskonzepte sind hingegen die idealen Voraussetzungen, um Krisen zu managen – zu ihnen gibt es bei grossen Konzernen und klassisch agierenden Organisationen wie den Stadtwerken oder Handelskammern keine Alternative. Auch Firmen aus den Branchen Industrie und Maschinenbau mit vielen Stakeholdern, wie Gewerkschaft und Vorstand, können auf traditionelle Top-Down-Entscheidungen nicht verzichten.

Gut gehandhabt, können beide Auslegungen zur Effizienz des Unternehmens beitragen. Entscheidend ist es, die digitalen Technologien in den kulturellen Wandel miteinzubeziehen, und nicht nur auf rhetorische oder soziologische Effekte zu setzen.

Dies berücksichtigen allerdings nur die wenigsten Geschäftsführer und Personaler, wenn sie in der Stellenanzeige das «junge und dynamische Team mit flachen Hierarchien» anpreisen.

Immerhin haben ein paar Manager die strategische Relevanz hinter dieser Fassade erkannt. So kündigte nach dem «Krawatten-Erlass» Daimler-Chef Dieter Zetsche vor Kurzem an, dass er die Agilität in seinem Unternehmen drastisch erhöhen wolle, indem er die Entscheidungsprozesse von sechs auf zwei Ebenen reduziert. Das reicht natürlich noch lange nicht an eine anarchistische Studenten-Wohngemeinschaft heran – aber das möchten sicher auch nur wenige.

Quellen:

  • ¹ Timothy A. Judge et al., 2010: The relationship between pay and job satisfaction: A meta-analysis of the literature. Journal of Vocational Behavior 77 (2010), 157–167.
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Sascha Grosskopf leitet das Field-Marketing und Demand Generation Team in EMEA bei Cornerstone On Demand, einer der weltweit führenden Anbieter von Software für Learning und Human Capital Management. Er verfügt über umfassende Branchenkenntnis und detailliertes Wissen in den Bereichen Talentmanagement, Change Management und Unternehmensentwicklung. www.cornerstoneondemand.de

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