HR Today Nr. 5/2017: Holacracy

So arbeitet Freitag

Der Taschenhersteller Freitag experimentiert seit September 2016 mit Holacracy. Die Organisationsform entstammt der Wissenschafts- und IT-Szene – Freitag will sie auch für die Blue-Collar-Belegschaft einführen. Ein Blick hinter die Kulissen.

In der Luft liegt der typische leicht «zeltige» Geruch von LKW-Planen. Rund 390 Tonnen Planen pro Jahr werden im Hauptsitz des Taschenherstellers Freitag in Zürich Oerlikon verarbeitet. Bevor sie als robuste Taschen mit Kultstatus zu neuem Leben erweckt werden, wird das Rohmaterial hier zerlegt, in XXL-Waschmaschinen gereinigt und in Handarbeit zugeschnitten. 120 der 170 Freitag-Mitarbeitenden wirken im Hauptquartier in Zürich Oerlikon. Die einen an den farbigen Taschen – die anderen an der Organisation selbst.

Nonstop auf organisatorischer Reise

Freitag befindet sich seit acht Jahren auf einer «organisatorischen Reise», auf der sich das Unternehmen schrittweise von klassischen Organisationsformen entfernt hat. Grund für den Wandel: Das Unternehmen, Anfang der 90er-Jahre von den Brüdern Daniel und Markus Freitag als gefeiertes Kreativ-Start-up in einer WG gegründet, war aufgrund des durchschlagenden Erfolgs stark gewachsen. Im Laufe der organisatorischen Reise experimentierten die Freitag-Brüder mit neuen Arbeitsmethoden wie Scrum und Beyond Budgeting. Ende 2015 schafften sie gar die Geschäftsleitung ab und Ende September 2016 haben sie mit der Implementierung von Holacracy begonnen. Der Impuls dafür kam von Daniel Freitag, der die Organisationsform Anfang 2016 für sich und das Unternehmen entdeckte. «Irgendwann stapelten sich im Organigramm zu viele abgeschlossene Kästchen auf zu vielen Hierarchiestufen: Veränderung musste her», erklärt Pascal Dulex, der bei Freitag neben seinen Rollen als «Creative Director», «Culture Coach» und «Apostel» (eine Art Aussenminister-Funktion) ganz unterschiedliche Aufgaben innehat und als Teil des dreiköpfigen HR-Teams auch für die Umsetzung der neuen Organisationsform verantwortlich ist.

Ende der Hierarchie?

Holacracy wird oft mit dem Ende der Hierarchie in Verbindung gebracht. Macht Holacracy Freitag zu einer hierarchiefreien Organisation? Dulex verneint: «Holacracy ist nicht hierarchielos. Im Gegenteil. Es gibt eine sehr starke Hierarchie. Diese ergibt sich jedoch nicht aus der Vorgesetztenposition heraus, sondern basiert auf den fachlichen Skills.» Je nachdem, worum es bei einer Entscheidung geht, hat deshalb eine andere Person die Entscheidungskompetenz. Statt in einem klassischen Pyramiden-Organigramm sind die Mitarbeitenden bei Freitag in Kreisen organisiert. Der Mitarbeitende hat keine Funktion, sondern eine oder mehrere Rollen. Alle Tätigkeiten, die bei klassisch organisierten Unternehmen in den Stellenbeschreibungen der einzelnen Funktionen festgeschrieben sind, sind bei Freitag in verschiedene Rollen aufgegliedert. Diese gehören unterschiedlichen Kreisen der Unternehmensorganisation an. Bei Freitag sind die Rollen und deren Aufgaben in einem Software-Tool namens Glassfrog festgehalten.

Auch im HR-Bereich gibt es verschiedene Rollen, die von insgesamt drei Leuten besetzt werden. Sie tragen Namen wie «People Scout» (zuständig für Recruiting), «Onboarding Compass» (zuständig für die Einführung neuer Mitarbeiter), «Moneypenny» (zuständig für die Lohnzahlungen) oder «People Affairs» (zuständig für Case Management). Der Vorteil: «Es lässt sich sehr präzis und transparent definieren, wer wofür verantwortlich ist», so Dulex.

Souveräne Kreise

Die einzelnen Kreise werden organisiert vom sogenannten «Lead Link» – eine fixe Rolle in jedem Kreis. «Der Lead Link ist nicht der Chef des Kreises, sondern eine Rolle, die den Kreis gemäss seinem Zweck organisiert», erklärt Dulex. «Er definiert beispielsweise die Kreisstruktur, ist verantwortlich dafür, darin die Rollen zu besetzen und Arbeiten innerhalb des Kreises zu priorisieren.» Tragen andere Kreise Anliegen an einen Kreis heran, so sei es Sache des Lead Links, diese im eigenen Kreis zu thematisieren. Eine zweite fixe Rolle in jedem Kreis ist der «Rep Link». Dieser wird von den Kreismitgliedern gewählt und repräsentiert den Kreis gegenüber dem übergeordneten Kreis.

Jeder Kreis ist souverän. «Es kann niemand von ausserhalb des Kreises etwas Kreis-Internes verändern. Dafür muss immer der Weg über den Lead Link genommen werden. Damit soll die Souveränität der Kreise geschützt werden und jeder Kreis jederzeit handlungsfähig bleiben.» Das Ziel bestehe darin, «echtes Empowerment» zu ermöglichen: «Wenn der Vorgesetzte entscheidet, Jobs vergibt und diese aber auch nach Lust und Laune wieder entziehen kann, ist das lediglich delegierte Autorität», differenziert Dulex. Holacracy wolle hingegen Autorität verbindlich auf die Rolleninhaber und Kreise verteilen.

Motivation und weniger Diskussionen

Dass den Leuten Kompetenzen übertragen werden, könne sehr motivierend wirken, erläutert Dulex die Vorteile von Holacracy. «Die Leute sehen, dass auf ihre Fachkompetenz vertraut wird. Sie merken plötzlich, dass sie Entscheidungen treffen können und man das auch von ihnen erwartet.» Zudem schütze Holacracy den Vorschlag des Einzelnen. Dulex: «Natürlich können in Meetings Einwände angebracht werden, wenn man mit einem Vorschlag nicht einverstanden ist. Aber niemand kann sagen: Das machen wir nicht. Jeder Vorschlag wird geprüft, berechtigte Einwände gilt es zu integrieren.»

Einen weiteren Vorteil von Holacracy sieht Dulex in den sehr klaren Meetingstrukturen, «was bei uns zu einer extremen Verkürzung von Sitzungen und Diskussionen geführt hat». Plötzlich sei klar, wer wirklich entscheide. «Das verkürzt die Entscheidungsprozesse.» Dabei prägen vor allem zwei Meeting-Formate den Alltag jener, die bei Freitag inzwischen nach der Holacracy-Logik arbeiten: das «Tactical Meeting» und das «Governance Meeting». Bei den wöchentlichen Tactical Meetings geht es um konkrete Projekte und die Synchronisierung innerhalb der Kreise, wobei alles konsequent auf Informationsaustausch und Wissenstransfer ausgerichtet ist.

Bei den alle zwei Wochen stattfindenden Governance Meetings geht es um die Organisation und Fragen wie: «Funktioniert unsere Zusammenarbeit so, wie wir aufgestellt sind? Müssen wir uns anders organisieren, an einzelnen Schräubchen drehen? Sind bei allen Arbeitsschritten die Zuständigkeiten klar? Brauchen wir neue Rollen, müssen wir Rollen anpassen?»

Noch ist der Transformationsprozess Richtung Holacracy bei Freitag nicht abgeschlossen. Ziel sei es, Holacracy bis Mitte 2017 im ganzen Unternehmen implementiert zu haben. Ein entscheidender Indikator, um den Erfolg der Organisationsform zu messen, sei dabei die Mitarbeiterzufriedenheit, erklärt Pascal Dulex: «Die Leute sollen sich entfalten können.» Messen will Dulex auch, inwiefern die Kreise ihren Zweck erfüllen. «Für diese Erhebung werden mehrere Qualifikationsprozesse nötig sein.»

Smooth Operations

Rückblende: Freitag hat Mitte 2016 begonnen, sich ernsthaft mit Holacracy auseinanderzusetzen. Dafür hat man sich auch Unterstützung einer Agentur geholt. Im September 2016 fiel die definitive Entscheidung für Holacracy und Ende November 2016 unterschrieben die Freitag-Brüder nach einer dreitägigen Ausbildung der ehemaligen Kaderleute die «Holacracy-Verfassung». «Dann haben wir zu planen begonnen und uns überlegt, was die Rollen sein könnten und in welche Rollenbilder wir sie giessen könnten.» Ebenfalls im September letzten Jahres gründeten sie den ersten Kreis, der nach Holacracy funktionierte: den «General Company Circle», der in etwa die ehemalige Geschäftsleitung umfasst – nun aber den anderen Kreisen hierarchisch nicht mehr überstellt ist. Den zweiten Kreis nannte man «agile Freitag»: Er hat die Aufgabe, die Implementierungsphase zu begleiten. Es folgten zwei weitere Kreise, die heute die Hauptkreise darstellen: «Commercial», der Marketing- und Sales-Rollen umfasst, und «Smooth Operations», der Produktions-Rollen vereint. Nach und nach wurden und werden diese Kreise nun ausdifferenziert: «Alle paar Wochen startet wieder irgendwo ein Kreis», erklärt Dulex. «Die Leute machen zu Beginn eine ‹Discovery-Session›, wo sie ihre derzeitige Arbeit in Rollen abbilden. Dann bilden sie den Kreis in unserem Tool ab. Darauf folgt ein Prozess, der prüft, ob der Kreis alle Voraussetzungen für den Start erfüllt.»

Gründer als Triebfeder

Für die Implementierung von Holacracy arbeitet Pascal Dulex eng mit den beiden anderen Inhabern der HR-Rollen zusammen. Zudem sei auch die Zusammenarbeit mit den beiden Freitag-Brüdern entscheidend. «Daniel Freitag ist nach wie vor eine Triebfeder dieser ganzen Entwicklung.» Ohne das Commitment der ehemaligen Geschäftsleitung gehe gar nichts.

Die Herausforderungen bei der Implementierung von Holacracy bei Freitag sind vielfältig: «Eine grosse Herausforderung ist sicherlich, den Leuten zu vermitteln, worum es überhaupt geht», so Dulex. «Wir haben bei Freitag teilweise extreme Blue Collar Jobs, auf denen viele niedrigqualifizierte und auch ungelernte Leute arbeiten, die teilweise schlecht Deutsch sprechen. Für sie ist es anstrengend, sich plötzlich mit organisatorischen Fragen auseinanderzusetzen.» Diese Mitarbeiter zu integrieren, sei eine der grössten Herausforderungen, die noch anstehe. Aber auch im White-Collar-Bereich müssten die Leute in das System «reinkommen», so Dulex: «Bei der Ausbildung haben wir gemerkt, dass wir sehr sorgfältig arbeiten müssen.» Deshalb setzte Freitag hierbei von Anfang an auf massgeschneiderte Trainings, um auch schon während der Ausbildung den Unternehmenskontext zu gewährleisten.

Eine weitere Herausforderung: «Nicht alle fanden Holacracy von Anfang an super. Es gibt auch Leute, die eher ein klassisches Verständnis von Führung haben.» Dies sei zum Beispiel bei einzelnen Führungskräften der Fall gewesen. Es gebe aber auch Mitarbeitende, die Führung brauchen und sich eigentlich nicht selbst organisieren wollen. «Dem Rechnung zu tragen, ist eine weitere Herausforderung. Wir versuchen dies, indem wir Rollen schaffen, die weiterhin die Hauptaufgabe haben, zu organisieren.»

Im Organisationsformat Holacracy kommen bei Freitag auch neue Arbeitsmethoden wie Scrum oder Beyond Budgeting zum Einsatz, wobei «Scrum sich bei uns vor allem in Entwicklungsprojekten bewährt hat und wir uns auch nicht immer 100-prozentig an die Scrum-Logik halten», schränkt Dulex ein: «Wir haben die Methode in den vergangenen Jahren für uns adaptiert. Wie auch eine Reihe von anderen Tools und Methoden, die wir auf uns anpassen.»

Dazu gehört unter anderem auch, dass jede Person Investitionen von bis zu 5000 Franken tätigen kann. Die Bedingungen dafür sind in einer Checkliste festgehalten und umfassen Fragen wie: Habe ich verhandelt? Habe ich sichergestellt, dass sich die Ausgabe lohnt? Handle ich nach dem Vier-Augen-Prinzip?

Von Zürich Oerlikon in die ganze Welt

Zurück in den Fabrikhallen: Die Freitag-Mitarbeitenden kontrollieren aufmerksam die fertigen Produkte, die von externen Partner-Schneidereien in der Schweiz, in Tschechien, Bulgarien, Frankreich, Portugal und Tunesien zu den eigentlichen Freitag-Taschen zusammengenäht wurden. Von hier aus wandern sie ins Lager des Vertriebs und treten ihre Reise an in die über 450 Freitag-Verkaufsstellen auf der ganzen Welt.

Die Freitag-Story

Freitag stellt seit 1993 Taschen und Accessoires aus gebrauchten Materialien her  – hauptsächlich aus LKW-Planen. Die Firma wurde 1993 von den Brüdern Markus und Daniel Freitag gegründet und löste in einem urbanen Publikum eine Welle der Begeisterung aus, die bis nach Asien schwappte. Heute hat das Unternehmen 170 Mitarbeitende und vertreibt seine Produkte im eigenen Online-Store sowie in 13 Freitag-Stores und bei 450 Wiederverkäufern weltweit.

 

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