«Es geht darum, Macht besser zu verteilen und zu bestimmen, wer abschliessend Entscheide fällen kann.» Ein nicht ganz uneigennütziges Vorgehen, denn die Hierarchie bei der Stämpfli Gruppe erwies sich zunehmend als schwerfällig: «Die Teamleiter haben oft zu viel auf dem Buckel», meint Stämpfli. Der mit der Überlastung einhergehende Entscheidungsstau führte zu einem «Flaschenhals»: Verzögerung bei der Umsetzung von Projekten waren die Folge. Nun sollen die Mitarbeitenden in ihrem Fachbereich selbständiger entscheiden und damit das Umsetzungstempo im Betrieb erhöhen.
Während Financefox und Xpreneurs Holacracy vor über einem Jahr in ihren Unternehmen verankert haben, ist die Stämpfli Gruppe noch nicht ganz so weit: «Wir stehen kurz davor zu entscheiden, in welche Richtung wir unsere Organisation weiterentwickeln wollen.» Die neue Organisationsform solle zuerst in einem Teilbereich eingeführt und dann «sehr rasch auf das gesamte Unternehmen ausgedehnt werden».
Altes Denken verlernen
Mit einer neuen Organisationsform allein ist es noch nicht getan. Das alte Denken muss verlernt werden. Das ist auch bei Financefox so: «Es zeigt sich immer wieder, dass erfahrene Führungskräfte sich damit schwertun, in Rollen zu denken und zu differenzieren, wofür sie verantwortlich sind und wofür nicht», sagt Michael John. Zudem bereite es ihnen häufig Mühe, ihre Erwartungen deutlich zu äussern. Sie zeigten sich dann oft irritiert, wenn diese nicht erfüllt würden. «Da ist ein Umdenken angesagt.»
Für Patrick Scheuerer zeigen sich die alten Denkmuster vor allem in der Neigung, Konsens zu finden oder wenn einzelne Mitarbeitende Meetings «monopolisieren» und sich in den Vordergrund stellen. Auch bei der Stämpfli Gruppe setzt man sich mit veralteten Denkhaltungen auseinander, obwohl Peter Stämpfli seinen Mitarbeitenden viel zutraut: «Sie sind erwachsene Menschen. In ihrem Privatleben fällen unsere Mitarbeitenden täglich weitgehende Entscheidungen. Warum sollten sie das bei uns im Unternehmen nicht tun?» Etwas eigenständig zu verändern, trauen sich aber viele nicht. «Es kommen häufig Rückfragen», sagt Stämpfli. «Die Mitarbeitenden sehen zwar, was zu verändern wäre, tun es aber nicht, sondern warten darauf, das jemand anders entscheidet.» Die Hierarchie sei eben immer noch in den Köpfen. «Aber was kann denn schon schiefgehen?» Nichts sei in Stein gemeisselt: Entscheidungen könnten, wenn sie das Unternehmen gefährden, überdacht und gegebenenfalls wieder rückgängig gemacht werden. Die Bremswirkung, die ein unnötiges Zögern verursache, bringe der Organisation jedenfalls nichts.
Sich auf das Holacracy-Modell einzulassen, bedeutet auch, sich von liebgewonnenen Funktionen und Titeln wie etwa «HR-Leiter» oder «Chief Human Resources Officer» zu lösen. «Menschenbezogene Aufgaben gibt es zwar auch in einem holokratischen System», führt Patrick Scheuerer aus. Nur seien diese dezentraler, weniger standardisiert und über mehrere Rollen verteilt. Bei Financefox sind HR-Aufgaben beispielsweise in einem Kreis organisiert, in dem klassische HR-Funktionen in Rollen wie der Rekrutierung, der HR-Administration oder der Kultur- und Organisationsentwicklung zusammengefasst sind.
Opferhaltung abbauen
Eine radikal neue Organisationsform erfordert auch neue Fähigkeiten: doch welche? «Mitarbeitende müssen das Selbstvertrauen entwickeln, neue Situationen erfolgreich zu meistern», meint etwa Peter Stämpfli. Dabei werde die Persönlichkeitsschulung wichtiger, denn Holacracy-Regeln wie der gegenseitige Umgang an Sitzungen müsse man lernen. «Nicht jeder muss ein Kreativer oder ein Macher sein», zerstreut Patrick Scheuerer die Befürchtung, dass Holacracy nicht für alle Mitarbeitenden geeignet sei. «Man muss für seine Rollen und sein Handeln jedoch Verantwortung übernehmen.» Holacracy mache es schwer, sich in eine Opferhaltung zu begeben, da jeder Mitarbeitende die Möglichkeit habe, Einfluss zu nehmen, Probleme zu lösen, Ideen einzubringen und diese umzusetzen.
Stärken fördern
«Wer strukturiert arbeitet, hat es mit Holacracy leichter», meint Michael John, basiere das Organisationsmodell doch auf einem umfangreichen Regelwerk, das im Alltag als Leitlinie dient. Auch wer seine Fähigkeiten und Neigungen gut kennt, profitiert von einem solchen System, denn «niemand kann einem anderen vorschreiben, welche Rolle er wahrzunehmen und wie er seine Arbeit zu verrichten hat», sagt Patrick Scheuerer. Damit können Mitarbeitende jene Rollen wählen, die ihnen tatsächlich liegen. Mit Peter Stämpfli findet sich ein grosser Fürsprecher dieser Stärkenförderung: «Es macht einfach keinen Sinn, auf den Schwächen eines Mitarbeitenden herumzureiten», sagt er. «Es kostet zu viel Energie, Schwächen auszubügeln.» So hätten etwa manche Mitarbeitende ein Talent dafür, Arbeitszeugnisse zu schreiben, andere eben nicht. Das gelte es zu akzeptieren. Auch im Fall einer Kündigung lassen sich Rollen leicht auf neue Schultern verteilen, denn die Rolleninhaber unterliegen einer weitgehenden Dokumentationspflicht, hebt Michael John einen weiteren Vorzug dieses Systems hervor. Dadurch würde zudem sehr schnell klar, an welcher Stelle zusätzliche Kompetenzen gebraucht würden. Etwa dort, wo Koordinationsschwierigkeiten zwischen verschiedenen Mitarbeitenden aufträten.
Ob eine Organisation den Sprung in unbekannte Organisationsgewässer tatsächlich wagen soll, hängt gemäss Peter Stämpfli hauptsächlich davon ab, «ob Mitmenschen als Bedrohung oder als Gleichwertige» betrachtet würden. Ungeachtet dessen, ob sie Hilfsarbeiten ausführen oder Software programmieren.
Meet the Experts
Zusammen mit der Impact-Akademie führt HR Today im September erstmals einen für HR Today-Abonnenten kostenlosen «Meet the Experts» Anlass durch, wo Autoren, Interviewte und Leser miteinander in Kontakt treten und das im vorliegenden Artikel behandelte Thema über Mittag vertiefen können.
Thema: Organisationsentwicklung
Datum: 27. September 2016
Zeit: 12.00 bis 14.00 Uhr
Ort: HWZ, Lagerstrasse 5, 8021 Zürich