Fit für den Wandel?
Globale Phänomene wie die Digitalisierung verändern die Arbeitswelt in einem bisher nicht gekannten Ausmass. Auf die zunehmende Komplexität, Ungewissheit und Ambivalenz haben viele Firmen noch keine Antwort gefunden. Doch ihr «Betriebssystem» braucht dringend ein Update, um Talente zu gewinnen und zu halten.
Einschätzung der Unternehmens-Agilität von Führungskräften und Mitarbeitenden. (Quelle: Haufe)
Die sich rasch verändernden globalen Märkte und die digitale Disruption treffen in vielen Organisationen auf erstarrte hierarchische Strukturen. Viele traditionell organisierte Unternehmen reagieren mit angezogener Handbremse. Um agiler zu werden und angemessen mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen umzugehen, sehen sich immer mehr Unternehmen gezwungen, ihre Organisationsform zu modernisieren.
Diese Erkenntnisse sind in den Führungsetagen angekommen, wie die soeben erschienene Global-Human-Capital-Trends-Studie von Deloitte belegt. So möchten 92 Prozent der aus 130 Ländern stammenden Führungskräfte ihre Organisation mit höchster Priorität «reformieren». Zum Zeitpunkt der Befragung befanden sich bereits 39 Prozent der erfassten Firmen in einem solchen Wandel und sechs Prozent hatten dies vor. Während streng einzuhaltende Hierarchiewege gemäss dieser Studie zunehmend zum Auslaufmodell werden, zeichnen sich Organisationsformen ab, in denen vernetzte Teams weitgehend autonom agieren. Diese neuen Organisationsformen hätten eine grosse Ähnlichkeit mit Filmproduktionsteams, wo Menschen zusammenkommen, um ein Projekt abzuwickeln, und sich nach Projektabschluss anderen Aufgaben widmen. Die Mehrheit der befragten Führungskräfte spricht sich zwar dafür aus, in ihrer Firma eine Netzwerkstruktur einzuführen, nur wissen die wenigsten, wie eine solche Organisation funktioniert. Gerade zwölf Prozent sagten, dass sie dazu über ausreichend Wissen verfügten.
Auseinanderklaffende Wahrnehmung
Im Agilitätsbarometer, einer Umfrage von Haufe, worin 400 Führungskräfte und 800 Mitarbeitende in Grossunternehmen befragt wurden, zeigen sich die Führungskräfte dagegen durchwegs positiv, was die Agilität ihrer Unternehmen anbelangt. Zwischen Eigeneinschätzung der Führungskräfte und der Wahrnehmung der Mitarbeitenden öffnet sich jedoch ein grosser Graben: So bewerten rund 67 Prozent der befragten Kadermitarbeitenden die Agilität ihres Unternehmens als überdurchschnittlich fortgeschritten. Doch nur 41 Prozent der Mitarbeitenden teilt diese Einschätzung. Ebenso scheinen die Kadermitglieder den Grad der Selbstorganisation in ihrem Unternehmen zu überschätzen: Mehr als jede zweite Führungskraft glaubt, dass mindestens ein Viertel der Belegschaft in selbstorganisierenden Teams arbeite: Unter den Angestellten teilt jedoch nur jeder vierte Beschäftigte diese Einschätzung. Sind solche Fehleinschätzungen eine Folge davon, dass sich Führungskräfte öfter mit diesen Themen beschäftigen als ihre Untergebenen? Gemäss der Haufe-Befragung kommt das Management jedenfalls deutlich häufiger mit agilen Arbeitsmethoden in Berührung als seine Mitarbeitenden. Während achtzehn Prozent der Manager bereits Erfahrungen mit Arbeitsmethoden wie Scrum oder Design Thinking gesammelt haben, sind es nur acht Prozent der Mitarbeitenden, die diese Methoden praktisch anwenden.
Es ist nicht nur die Digitalisierung, die den Druck nach unternehmensinternen Veränderungen vorantreibt. Die Mitarbeitenden wollen anders arbeiten. Das zeigt eine von Microsoft in Auftrag gegebene Studie auf, in der 1000 Beschäftigte aus Deutschland darüber Auskunft gaben, welche Form der Zusammenarbeit sie bevorzugen. So wünschen sich 85 Prozent der Befragten einen besseren Zugang zu Informationen. Ebenso viele wollen selbständiger arbeiten und 84 Prozent wünschen regelmässigeres Feedback zu ihrer Arbeit. Gleichzeitig möchten 71 Prozent der Befragten flexibler arbeiten, wobei nur 19 Prozent von ihrem Vorgesetzten die Möglichkeit dazu erhalten. «Chefs sollen Mitarbeitende häufiger coachen» ist eine Aufforderung, die scheinbar weitgehend verhallt. So wünschen sich 60 Prozent der befragten Mitarbeitenden mehr Unterstützung von ihrem Chef und nur jeder zweite ist mit seinem Vorgesetzten in seiner Rolle als Coach sehr oder gar vollkommen zufrieden. Die Führungskultur in befragten Unternehmen passe weder zu den Wünschen der Arbeitnehmenden noch zu den Anforderungen der digitalen Wirtschaftswelt, so das Fazit der Microsoft-Studie.
Eine dringliche Handlungsaufforderung, das Denken des industriellen Zeitalters hinter sich zu lassen und neue Organisationsformen zu finden, die agiler sind und den Mitarbeitenden mehr Mitbestimmung und Mitgestaltung einräumen.
Angstgetriebene Prozesse
Die Ratlosigkeit, wie sich Organisationen für das disruptive digitale Zeitalter fit machen können, ist in den Unternehmen deutlich spürbar, konstatiert der Organisationsberater Frederic Laloux in seinem Buch «Reinventing Organizations». Viele Menschen hätten den Eindruck, dass die heutige Organisationsführung ihre Grenzen erreicht hat. Die hierarchische Struktur scheint veraltet zu sein, aber welche Struktur könnte sie ersetzen? Zwar könne Arbeit in Organisationen ein Mittel für Selbstausdruck und Erfüllung sein, doch immer mehr Menschen zweifelten am Sinn ihres Tuns, weil sich die Veränderungen in den Organisationen von Jahr zu Jahr bloss auf Zielvorgaben und Zahlen, Milestones und Deadlines, ein weiteres Change-Programm oder eine funktionsübergreifende Initiative beschränken. Den weitverbreiteten Motivationsmangel hält Laloux für eine unglückliche Nebenerscheinung der ungleichen Machtverteilung zwischen Management und Mitarbeitenden. Diesen Missstand würden viele Unternehmen zwar mit dem «Empowerment» der Mitarbeitenden auszugleichen versuchen, indem sie Entscheidungen in der Pyramide nach unten verlagern. In der Praxis überwiege unter Führungskräften aber immer noch die Angst, die Kontrolle abzugeben und ihren Mitarbeitenden zu vertrauen. Deshalb würden Entscheidungen weiterhin vorwiegend oben in der Hierarchie getroffen, auch wenn sie bei Mitarbeitenden weiter unten besser aufgehoben wären. Für Laloux sind aufgrund der ungleichen Machtverteilung viele Prozesse in den Unternehmen angstgetrieben – etwa der Budgetierungsprozess. Anstatt miteinander zu diskutieren, was machbar ist und was nicht, gäben Mitarbeitende Tabellen mit fiktiven Vorhersagen ab, in der Angst, diese nicht erfüllen zu können. Dabei verfehlten solche Budgets ihr Ziel, die Mitarbeitenden in ihrer Eigenverantwortung und Motivation zu fördern, die geplanten Ziele zu erreichen. Doch wie gestaltet man angstfreie Strukturen, wo niemand mehr Macht über andere hat und Mitarbeitende ihre Talente entfalten können?
Ein erster Schritt in eine neue, teamgesteuerte Organisation liegt für Laloux in der Dezentralisierung der Macht. Künftige Führungskräfte seien «Servant Leaders», die anderen dienten, ihren Mitarbeitenden zuhörten, sie ermutigten, motivierten und entwickelten. Sie führten mit Demut und seien bereit, Macht mit anderen zu teilen, indem sie sich von ihren Mitarbeitenden beispielsweise durch Wahlen bestätigen liessen. Eine starke, gemeinsame Kultur halte solche Unternehmen zusammen. Den Mitarbeitenden werde zugetraut, die richtigen Entscheidungen zu treffen, wobei sie sich an einer Reihe gemeinsamer Werte orientierten, anstelle «dicker Regelbeschreibungen und Absprachen». Unternehmen im Übergang von alten zu neuen Organisationsformen legten einen grossen Wert auf die Weiterentwicklung ihrer Unternehmenskultur, so werde die Personalentwicklung zur entscheidenden Abteilung. Eine Utopie? Das mag heute möglicherweise noch so klingen, doch Nicht-Handeln ist bestimmt keine Option.
Buchtipp
Frederic Laloux: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Verlag Vahlen, 2015.