«Wir brauchen mehr Querdenker»
Hierarchische Strukturen stossen immer öfter an ihre Grenzen, doch die Alternativen sind noch nicht klar erkennbar. Professorin Antoinette Weibel im Gespräch über die Umkehrung der Machtpyramide, zukunftsträchtige Organisationsformen und die Rolle, die HR dabei spielt.
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Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement und Direktorin am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen.
Frau Weibel, haben hierarchische Organisationen ausgedient?
Antoinette Weibel: Hierarchisch strukturierte Organisationen wird es weiterhin geben. Allerdings wandeln sich diese und es kommen neue Formen hinzu, die an Popularität gewinnen. Grundsätzlich kann ich mir zwei Typen von Organisationen vorstellen: Einerseits die nachhaltige Grossorganisation, die einer hierarchisch geführten Organisation ähnelt, die aber nach anderen Prinzipien organisiert ist. Manager werden in solchen Organisationen beispielsweise häufiger die Rolle eines Team-Coaches einnehmen als die eines Controllers. Zudem werden Mitarbeitende mehr zu Mitdenkenden und entscheiden viele Dinge selbst oder im Team. Selbstverantwortung wird wichtiger. Es braucht jedoch eine umgekehrte Pyramide, um die Entscheidungskompetenz nach unten zu verlagern. Neben diesen herkömmlichen Firmen wird es andererseits auch agile Organisationsverbände geben, also Firmen und Personen, die über die Unternehmensgrenzen hinweg gemeinsam an einem Projekt arbeiten. Dabei sind viele Formen der Zusammenarbeit möglich. In jedem Fall werden die
Organisationsgrenzen flexibler, die Organisationen kleiner und die Macht wird stärker verteilt.
Worauf gründet Ihre Prognose?
Wir befinden uns in einem Zeitalter, wo die Industrialisierung zu einem Ende gekommen ist und sich vieles sehr rasch und radikal verändert. Wir brauchen deshalb keine Leute mehr, die nur Befehle ausführen. Es reicht nicht mehr, nur «kleine Ideen» zu haben. Wir müssen mutig sein und nicht wie schmollende Kinder reagieren, wenn ein Querdenker eine neue Sichtweise ins Unternehmen einbringt, die unserer Weltsicht widerspricht. In den alten Organisationen wollte man solche Leute oft nicht. Sie sollten einfach funktionieren. Das ist das Gegenteil von dem, was wir heute brauchen. Wir brauchen mehr Querdenker denn je, vor allem auch in den Verwaltungsräten und in der Politik.
In einem Vortrag sprachen Sie kürzlich darüber, dass die Arbeit ohne Vertrauen keine Zukunft habe. Wie ist das zu verstehen?
Ohne Vertrauen sind die eben erwähnten Organisationsformen nicht realisierbar. Bei der umgekehrten Pyramide müssen Vorgesetzte sich trauen, Mitarbeitende tatsächlich einzubeziehen und selbst entscheiden zu lassen. Das passiert heute relativ selten, denn Führungskräfte scheuen sich davor, Macht abzugeben. Auf der anderen Seite müssen Mitarbeitende sich mit dem Unternehmen identifizieren, Vertrauen schöpfen, mit ihren Ideen mutig vorangehen und manchmal auch unangenehme Wahrheiten aussprechen. Wer in agilen Netzwerken arbeitet, muss fähig sein, sehr schnell Vertrauen aufzubauen, um mit anderen Menschen virtuell oder organisationsübergreifend zu arbeiten. Selbstorganisation ist dabei zentral. Besonders in der Art und Weise, wie wir Entscheidungen treffen, uns koordinieren und Ressourcen beschaffen oder tauschen.
Welche Ausprägungen der Selbstorganisation stehen für Sie im Vordergrund?
In der Organisationslehre kennen wir mehrere Ansätze. Beispielsweise jenen der internen Märkte, bei denen Mitarbeitende sich um Projekte bewerben, Teams mit anderen um Aufträge konkurrieren oder zwischen verschiedenen Unternehmenseinheiten Service Level Agreements abgeschlossen werden. Zum anderen gibt es eine zweite Form der Selbstorganisation, wo sich Mitarbeitende dezentral durch demokratische Entscheidungen, das Kollegialitätsprinzip, Einstimmigkeitsentscheide oder begründeten Widerspruch abstimmen. Dass Selbstorganisation immer bedeutet, Entscheide einstimmig zu fällen, ist jedoch ein Irrtum. Die Selbstorganisation hat viele Schattierungen. Nicht immer müssen alle Mitarbeitenden mit einem Entscheid einverstanden sein.
Was ist Ihre Einschätzung zu Organisationsansätzen wie «Holacracy»?
Holacracy ist momentan eine sehr lautstarke Bewegung. Es ist lohnend, sich damit auseinander zu setzen. Aber es gibt noch viele andere Ansätze. Wie wir das Ganze am Schluss nennen, finde ich eher unwichtig. Wichtiger ist, wie man die Selbstorganisation umsetzt. So macht es einen grossen Unterschied, ob man immer basisdemokratisch entscheidet, eher vom Prinzip des begründeten Widerspruchs ausgeht oder nur fallweise eine Teamentscheidung abruft.
Wie sehen Sie die künftige Rolle des mittleren Managements?
Das mittlere Management wird vor allem in den hierarchisch organisierten Unternehmen als Coach, Brückenbauer und Ermöglicher zum Dreh- und Angelpunkt. Besonders in Grosskonzernen kann es im ständigen Austausch mit anderen Managern erkennen, welche Person in welchem Team einen neuen Input einbringen kann oder wo beispielsweise mehrere Teams an ähnlichen Thematiken arbeiten und sich zusammentun können. Das obere Management kann diese Funktion nicht wahrnehmen. Es ist zu weit weg von den Mitarbeitenden. In agilen Netzwerkorganisationen wird es hingegen ein mittleres Management vermutlich nicht mehr geben.
Und welche Rolle wird das HR noch spielen?
Die neuen Organisationen werden von einer Kultur der ständigen Erneuerung und des Lernens geprägt sein. Weil sich Teams immer wieder neu zusammensetzen und Menschen zu Teamleadern erkoren werden, die sich mit einem bestimmten Thema auskennen, gewinnt die Rolle des HR an Bedeutung: Es kann in einem solchen Kontext mitwirken, Teams optimal zusammenzustellen und diese mit Mitteln und Methoden auszustatten, damit sie gut funktionieren, oder bei Konflikten zu coachen. Im Idealfall wird das HR zum Organisationsentwickler, der Hilfe zur Selbsthilfe leistet und sicherstellt, dass das Team seine Probleme lösen kann und nicht etwa andere Teammitglieder mobbt, dass Führungskräfte «Vertrauenspersonen» sind und genügend Querdenker im Unternehmen sind. Mit Big Data entstehen zudem viele positive Steuerungsmöglichkeiten, wie etwa im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Die Datenauswertungen dürfen die Privatsphäre der Mitarbeitenden jedoch nicht unnötig verletzen. Hier ist das HR als ethische Instanz gefordert.