HR Today Nr. 5/2017: swissstaffing-News

Die Vertrauenskrise

Es ist unruhig auf dem politischen Parkett. Auch in der Schweiz stimmen die Initiativen und deren Resultate nachdenklich. Es lohnt sich jedoch, einen zweiten Blick auf die Gründe der Zunahme an Initiativen und deren Abstimmungsresultate zu werfen.

Faire Löhne, fremde Richter, freie Zuwanderung, frivole Kriminelle. Ein Blick auf die Liste der Volks­initiativen zeigt: Kaum eine gesellschaftliche Frage bleibt von einem Referendum unberührt. Kein Wunder, fragt sich manche Schweizerin und mancher Schweizer in Zeiten von Brexit und Trump, ob es in der Schweiz einen Bruch zwischen dem Volk auf der einen Seite sowie der Politik und dem wirtschaftlichen Establishment auf der anderen Seite gibt. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und die Ablehnung der Unternehmenssteuerreform III scheinen Beleg zu sein für eine veritable Vertrauenskrise. Das ungehörte Volk als Damoklesschwert über unserer Demokratie?

Die Gefahr scheint real. Doch suchen wir die Ursachen für die erlebte Vertrauenskrise womöglich an der falschen Stelle. Die Schweiz belegt mit ihren wirtschaftlichen Eckdaten innerhalb der OECD regelmässig internationale Spitzenplätze – allen voran bei Lohn und Beschäftigung. Die Kriminalitätsstatistik ist rückläufig. Und die «fremden» Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben zwischen 1959 und 2016 erst 172 Verletzungen seitens der Schweiz festgestellt – drei Urteile pro Jahr. Die harten Fakten zeigen blauen Himmel statt Sturm.

Zunehmende Initiativen-Kultur

Woher kommt die Krisenstimmung, wenn nicht von stossenden, gesellschaftlichen Problemen? Die Antwort könnte ein Gemisch aus Psychologie und der Gestaltung unserer Demokratie sein. Seit der Gründung der Schweiz nimmt die Zahl der Volksinitiativen stetig zu. Wurde bis 1950 über weniger als eine Volksinitiative pro Jahr abgestimmt, waren es zwischen 2010 und 2016 bereits sechs Initiativen pro Jahr. Bei nicht wenigen Wahlkämpfen wird dabei eine Gretchenfrage berührt: Wie hält es der Stimmbürger mit der Moral – im Bereich unseres Rechtssystems, der Religion oder der Verteilung unseres Reichtums? Die wissenschaftliche Forschung weiss: Häufige Ereignisse bleiben Menschen im Kopf und prägen die Wahrnehmung ihrer Umwelt. Kein Wunder, trägt die stetig wiederkehrende Moralfrage an der Urne zum untrüglichen Gefühl bei, unsere Gesellschaft müsse aus den Fugen geraten sein.

Dieser Eindruck wäre richtig, wenn die Referenden eine Reaktion auf eine zunehmende Zahl grosser gesellschaftlicher Verwerfungen wären. In Anbetracht der vielen positiven Entwicklungen in der Schweiz ist folgende Annahme plausibler: Die Zahl der Referenden steigt, weil es immer leichter wird, die erforderlichen 100 000 Unterschriften für eine Initiative zu sammeln. Zwei Gründe spielen eine zentrale Rolle. Erstens lassen sich dank Social Media und Internet unkompliziert Kampagnen und Unterstützung organisieren. Zweitens sinkt mit der wachsenden Bevölkerung der Anteil an den Wahlberechtigten, die es von einer Unterschrift zu überzeugen gilt. Waren es bei der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 noch 2,7 Prozent der Stimmbürger, die eine Unterschrift leisten mussten, sind es heute nur noch 1,9 Prozent. Bei Einführung der Volksinitiative im Jahr 1891 waren gar noch 7,7 Prozent der Unterschriften erforderlich. Beide Entwicklungen spielen Parteien, Gewerkschaften und Verbänden in die Hände. Die Volksinitiative ist keine Ausnahme, sondern ein reguläres Instrument der Politik.

Problematik der Worttreue

Mit der zunehmenden Initiativen-Kultur im schweizerischen Politsystem steigt auch die Zahl der vom Volk angenommenen Referenden. Deren Umsetzung stellt das Parlament vor neue Probleme. Die neuen Verfassungspassagen enthalten oft mehr als einen politischen Gedanken oder erschweren mit ihrer Formulierung die praktische Umsetzung. Die anhaltende Diskussion um eine wortgetreue Umsetzbarkeit der Masseneinwanderungsinitiative bildet eines der vielen unrühmlichen Beispiele, das Konflikte schürt statt befriedigt. Zum Gefühl der aus den Angeln gehobenen Welt gesellt sich das Gefühl der Machtlosigkeit: «Die in Bern machen eh das, was sie wollen.»

Die Diskussionen um eine wortgetreue Umsetzung der Verfassung werden zum Teil hart und rechthaberisch geführt. Die Wissenschaft mahnt jedoch zur Vorsicht. Zahlreiche psychologische Studien zeigen, dass kleine sprachliche Variationen in der Entscheidungsvorlage grosse Wirkung auf deren Ausgang haben. Nobelpreisträger Kahneman unterteilte für ein Experiment Ärzte mit mehrjähriger Berufspraxis zufällig in zwei Gruppen und informierte diese getrennt voneinander über eine neue Krebsoperation. Einer Gruppe wurde berichtet, die Überlebenswahrscheinlichkeit läge bei der Operation bei 90 Prozent. Der anderen Gruppe wurde erzählt, die Sterbewahrscheinlichkeit läge bei 10 Prozent. In der ersten Gruppe empfahlen 84 Prozent der Ärzte, die neue Methode anzuwenden, in der zweiten Gruppe waren es nur 50 Prozent – trotz objektiv identischer Informationen. Dank der Abstimmungskämpfe dürften sich textliche Feinheiten in einer Referendumsvorlage nur geringfügig auf das Endergebnis auswirken. Und trotzdem scheint in Anbetracht solcher Studien Demut angebracht. Knappe Abstimmungsresultate mit grossen gesellschaftlichen Konsequenzen sollten vorsichtig interpretiert und umgesetzt werden. Wer weiss schon, wie beispielsweise über eine «Volksinitiative für die Sicherung einer liberalen Zuwanderungspolitik» abgestimmt worden wäre.

Das Volk miteinbeziehen

Eine steigende Zahl von Volksinitiativen, doppelbödige Referendumstexte mit anschliessenden Umsetzungsproblemen sowie stärker emotionalisierende Kampagnen dürften zum Gefühl beitragen, die Schweiz würde auf einen Bruch zwischen dem Volk auf der einen Seite sowie Politik und wirtschaftlichem Establishment auf der anderen Seite zusteuern. Das Gegenteil könnte der Fall sein. Durch die neue Abstimmungskultur rücken Volk und Politiker näher zusammen. Je mehr das Volk jedoch in das politische Tagesgeschäft miteinbezogen wird, umso mehr wird es zu einer eigenen Kammer, der der Ball ohne Groll und Vorwürfe zurückgespielt werden darf. Damit es auch langfristig zu keinem Bruch kommt, wird es für die Zukunft vermehrt heissen: Abstimmungsergebnisse ernst nehmen, besonders bei knappen Resultaten, die grundlegenden Interessen beider Seiten berücksichtigen, aber auch bei Umsetzungsproblemen nicht den Gang zurück vors Volk scheuen. Und nicht zuletzt sollten eigenwillige Initiativen als das betrachtet werden, was sie sind: nicht zwingend Indikatoren für stossende, gesellschaftliche Probleme, sondern Ausdruck einer offenen Gesellschaft, bei der Randgruppen ihre Positionen prominent zur Diskussion stellen dürfen.

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Melanie hat grosse Pläne: Dank der HR-Berufsprüfung

Melanie ist eine selbständige Personalverleiherin mit eigener Agentur und jeder Menge Unternehmergeist. Sie will selbstbestimmt beruflich weiterkommen und ihren Kunden auf Augenhöhe begegnen. Mit dem Abschluss als HR-Fachfrau mit Fachrichtung C holt sie sich das Rüstzeug. Erfahren Sie mehr über Melanie und ihre Motivation.

 

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Marius Osterfeld ist Ökonom bei ­swissstaffing.

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