Was bedeutet für Sie das Wort «Digitalisierung»? Und was sind für Sie die entscheidenden Umwälzungen, die damit einhergehen?
Ich möchte zwei Begriffe unterscheiden: Die Digitalisierung und die digitale Transformation. Das Wort Digitalisierung beschreibt die Veränderung von Prozessen – beispielsweise, wenn mir Rechnungen nicht mehr per Post, sondern per Mail zustellt werden. Digitalisierung heisst genauso gut, dass sich Produkte ändern. Früher hatte ich eine eingeschränkte Auswahl von Fernsehprogrammen – heute kann über jeden Natel-, Tablet-, oder Fernsehbildschirm hunderte von Programme schauen und das teilweise noch mehrere Tage rückwirkend. Die Aussenwelt dreht sich immer schneller und Unternehmen aus dem Silicon Valley, China oder Israel können ganz plötzlich mit Angeboten auf den Markt kommen, die die Geschäftsmodelle etablierter Firmen torpedieren. Ein Beispiel: WhatsApp und iMessage haben den Mobilfunkanbietern die Umsätze mit SMS-Diensten kaputt gemacht.
Der zweite Begriff, die digitale Transformation, ist die Antwort auf das gerade beschriebene: Ich verstehe darunter die Umwälzung bisheriger Arbeitsprozesse, Strukturen, Hierarchien – eigentlich die ganze Art und Weise, wie Menschen miteinander in einem Unternehmen agieren. Nehmen wir konkret das Swisscom TV 2.0-Produkt: Das ist nur in so kurzer Zeit erfolgreich an den Markt gekommen, weil das dafür verantwortliche Team eine völlig neue, agilere Form der Zusammenarbeit begann. Es hat die überlieferten Produktentwicklungsprozesse über Bord geworfen. Die Vorgesetzten haben damals sogar Genehmigungsprozesse abgeschafft und die Mitarbeitenden selbstständig entscheiden lassen. Diese neue Form der Zusammenarbeit ist so wirksam, dass das Unternehmen inzwischen über 1500 Kollegen darin schult, ähnlich zu arbeiten.
Was wollen Sie mit dem Titel sagen? Das impliziert ja, dass momentan eher «hirnlos» bei der Digitalisierung vorgegangen wird...
Ja – wenn man möchte, kann man das so lesen. Und tatsächlich gibt es manche Unternehmen die glauben, mit den bisherigen Methoden digital erfolgreich zu sein. Was wir mit dem Titel eigentlich sagen wollen: Es gibt bestimmte neurobiologische Prozesse, nach denen wir Menschen ticken. Die modernde Hirnforschung zeigt uns, dass ein menschliches Gehirn ein Leben lang veränderbar ist und der dazugehörige Mensch grundsätzlich in der Lage ist, neue Gedanken, neues Verhalten und neue Fähigkeiten hervor zu bringen – das ganze nennt sich Neuroplastizität. Das ist ein Idealszenario für Menschen und Unternehmen in jedem Transformationsprozess. Die Frage ist nur: Wie gelingt das? Mit Hilfe vieler Erkenntnisse der Hirnforschung und angrenzender Wissenschaften geben wir in unserem Buch darauf Antworten.
Ihr Digitalisierungs-Erfolgsrezept setzt sich aus den Bestandteilen zusammen, eine Vision zu finden, Menschen davon zu überzeugen, die Energie für Veränderung zu finden, Menschen Wertschätzung zukommen lassen und sie im Umbruch zu unterstützen, die Führung neu zu gestalten und ein neues Menschenbild zu schaffen. Das alles ist nicht neu und gilt im Grunde genommen für alle möglichen Projekte, also typisches Projektmanagement. Inwiefern handelt es sich dabei um alten Wein in neuen Schläuchen?
Man darf die digitale Transformation nicht als Projekt betrachten, sondern als eine grundlegende Veränderung der Zusammenarbeit zwischen den Menschen. Um bei der Aufzählung zu bleiben: Fast jeder Chef, mit dem wir sprachen gab zu, keine genaue Vision für die digitale Transformation zu haben. Es gibt in manchen Unternehmen nicht einmal dezidierte Personen, die sie vorantreiben – das wäre in Ihrem Vergleich der Projektmanager gewesen. Wenig von dem, was derzeit geschieht, ist also mit klassischem Projektmanagement zu vergleichen. Zudem muss man bei einem Projekt auch nicht die bisherige Führung neu definieren oder das Menschenbild verändern.
Bei der digitalen Transformation und dem damit einhergehenden kulturellen Veränderungen erlebe ich Menschen, die viele Dinge grundlegend in Frage stellen. Beispielsweise HR-Chefs, die merken, dass «Human Resources» ein Menschen-entwürdigender Begriff ist und sich daher in «Human Relationships» umbenennen. Ich erlebe Eigentümerfamilien, wie beispielsweise die Familie Otto, des gleichnamigen Hamburger Versandunternehmens, die sich vor ihre 50’000 Mitarbeitenden stellen und offen zugeben, dass sie nicht mehr die Antwort auf die derzeitigen Herausforderungen finden.
Ich sah mit Peter Fregelius, dem Leiter des Swisscom TV 2.0-Teams jemanden, der offen eingesteht: «Für mich war das zu Beginn ein schwieriger Lernprozess, die Unsicherheit auszuhalten, nicht mehr alles zu wissen.» Es gibt kein Erfolgsrezept für die Digitalisierung. Es gibt jedoch einige Elemente, durch die es gelingt, die Mitarbeitenden dafür zu gewinnen, diesen Wandel mit voller Energie mitzugestalten.
In Ihrem Buch verbinden Sie verschiedene Fallbeispiele mit der Erklärung zu neuronalen Auswirkungen von Veränderungsprozessen. Was sind für Sie die drei wichtigsten Erkenntnisse?
Führungskräfte müssen Menschen mitgestalten lassen, ihnen ein hohes Mass an Verstehbarkeit/Sinnhaftigkeit für den Transformationsprozess vermitteln und ihr eigenes Rollenbild als Chef überdenken. Durch die Mitgestaltung werden im Gehirn der Betroffenen die sogenannten emotionalen Zentren aktiv, die dafür sorgen, dass genügend Energie für die gerade erwähnte Neuroplastizität verfügbar gemacht wird. In Veränderungsprozessen neigen manche Mitarbeitenden dazu, die wenigen verfügbaren Informationen auf höchst ungünstige Art und Weise zu einem eigenen Bild zusammen zu reimen. Das resultiert in Angst. Daher ist die Verstehbarkeit/Sinnhaftigkeit so wichtig, um das zu vermeiden.
Maximilian Viessmann, der Co-CEO des gleichnamigen Heizungsherstellers, hat sich beispielsweise während des ersten Jahres des Wandels jede Woche vor einen Teil seiner 12’000 Mitarbeitenden gestellt und darüber gesprochen, wieso die digitale Transformation stattfindet. Die Veränderung des Rollenbildes ist notwendig, damit der Chef überhaupt erst die innere Haltung entwickelt, durch die es ihm möglich ist, vermeintliche Macht loszulassen: Chefs werden immer mehr zu Coaches der Mitarbeitenden.
Inwiefern sind die Unternehmen aus Ihrer Sicht auf die bevorstehenden Umwälzungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, vorbereitet?
Es gibt ausgewählte Unternehmen, die sehr gut vorbereitet sind. Viele CEOs berichten mir jedoch davon, dass sie die derzeitigen Diskussionen in der Wirtschaft als Feigenblatt-Gespräche erleben. Denn dieser Kulturwandel-Prozess bedeutet, dass viele Alphatiere in den Vorständen mit ihren bisherigen Erfolgsrezepten brechen müssten. Die Gefahr ist gross, dass diesen Protagonisten der eigene Machterhalt wichtiger ist, als die notwendigen Veränderungen im Unternehmen zu unterstützen.
Und die Gesellschaft?
Die Gesellschaft ist schon viel weiter, als manche Unternehmen. Maximilian Viessmann hat in seinen wöchentlichen Gesprächen vor den Mitarbeitenden jeweils sein iPhone in die Höhe gehalten. Dies um sie daran zu erinnern, wie fortgeschritten der Wandel bereits in unserem privaten Leben ist. In einem Unternehmen hat man die Geschäftsführung oder den Vorstand, die korrigierend eingreifen können.
In der Gesellschaft ist das die Politik. Und die versagt an vielen Stellen. Social Media Plattformen machen uns auch nicht unbedingt sozialer, sondern oftmals unsozial. Oder sie geben Menschen die Möglichkeit, für eine Handvoll Likes ihr Innerstes nach Aussen zu tragen.
Wir sind bereits mitten in den Umwälzungen. Manche Möglichkeiten, wie beispielsweise weltweite Petitionen, sind wunderbar. Anderes ist beängstigend und fördert menschliche Aspekte, die eigentlich therapiert werden müssten.
Inwiefern liefert Ihr Buch Antworten darauf?
Unser Buch liefert Antworten für die Unternehmen. Wir helfen den Führungskräften, die bereits Menschen-zugewandt führen, indem wir ihnen wissenschaftliche Argumente vermitteln, weshalb diese Form der Führung Sinn macht. Und wir helfen den Führungskräften, die noch mit veralteten Methoden arbeiten und sich fragen, wie es anders gehen könnte.
Was ist die Botschaft Ihres Buchs an das HR-Publikum?
Führungskräfte- und Personalentwicklung bedeutet in Zukunft immer mehr: Persönlichkeitsentwicklung. Chefs brauchen nicht ständig noch weitere Methoden, sondern eine andere Haltung. Eine Haltung die vermittelt, dass es ihnen wichtig ist, dass sich die Mitarbeitenden optimal entfalten – auch wenn diese irgendwann besser als der Chef werden oder das Unternehmen verlassen. Solche Führungskräfte zu bekommen, bedeutet bereits einen anderen Fokus im Recruiting zu haben und eine andere Form interner Entwicklungsprogramme zu etablieren.
Buchtipp
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Sebastian Purps-Pardigol, Henrik Kehren: Digitalisieren mit Hirn. 249 Seiten. Campus Verlag, 2018.