Ein Fels in der Brandung
Eine Firmenpleite kommt selten überraschend. Dennoch sind die unmittelbaren Folgen einer Konkursabwicklung kaum vorhersehbar. Wir haben mit HR-Leiterinnen und -Leitern gesprochen, die das Ende von Charles Vögele, Piatti und der Swissair miterlebt haben.
«Ich habe über das Autoradio vom Ende des Flugbetriebs der Swissair gehört. Das war ein extrem trauriger Moment», erinnert sich Matthias Mölleney, Ex-HR-Leiter Swissair. (Bild: 123RF)
Wenn alle Bemühungen zur Firmenrettung nicht reichen, sitzt der Schock bei den Führungskräften ebenso tief wie bei den Mitarbeitenden. In ihrer Funktion haben sie die schwärzesten Stunden der Firmengeschichte ihres Arbeitgebers erlebt und als Letzte das sinkende Schiff verlassen. So auch bei Nadja Primavera, ehemalige HR-Businessparterin von Charles Vögele, Monika Bütikofer, Ex-HR-Chefin bei Piatti Küchenbau, und Matthias Mölleney, ehemaliger HR-Leiter der Swissair.
Kampfgeist bis zum Schluss
«Ich habe nur noch funktioniert», sagt Monika Bütikofer. An den Tag des Konkurses erinnert sie sich genau: «Wenn das Konkursamt ins Haus kommt, weiss man, dass man verloren hat.» Nach der sofort einberufenen Kaderzusammenkunft seien die übrigen Mitarbeitenden informiert worden. Besonders für die Lernenden sei es seltsam gewesen zu vernehmen, dass ihr Arbeitgeber ab sofort nicht mehr existiert.
Eine Stunde später seien die Baustellen in der ganzen Schweiz geräumt und die Geschäftsfahrzeuge beschlagnahmt worden. Auch am Piatti-Hauptsitz in Dietlikon geht nichts mehr. «Wir durften nur ins Büro gehen, um unsere persönlichen Sachen abzuholen.» Jeder, der das Geschäftsgebäude verlassen habe, sei durchsucht worden und habe sein Geschäftstelefon sowie die Autoschlüssel seines Geschäftswagens abgeben müssen. Dass sie von heute auf morgen nichts mehr zu tun hat, kann Bütikofer zunächst kaum glauben.
Die herablassende Haltung der Beamten – «wir wissen schon, was wir machen» und «morgen ist auch Ihr letzter Arbeitstag» – verärgern sie. Bütikofer gibt sich kämpferisch und setzt durch, dass sie Kündigungen, Arbeitszeugnisse und Formulare des Konkursamts für ihre Mitarbeitenden erstellen kann. Viel Überzeugungskraft war nicht nötig. «Es hätte ewig gedauert, wenn die Konkursbeamten zweihundert Formulare mit jedem einzelnen Mitarbeitenden hätten ausfüllen müssen. Es war ein kleines Amt.»
An jenem Tag fährt sie auf der vielbefahrenen Autobahn A1 nach Hause und wundert sich über den fliessenden Verkehr. «Ich war wie weggetreten. Ich habe überhaupt nicht begriffen, dass ich mitten am Nachmittag nach Hause gefahren bin, keine Stelle mehr hatte und unsere Firma nicht mehr existierte.» Die Tränen seien erst zu Hause geflossen. Am nächsten Tag kehrt sie zur Firma zurück, um im Namen der Konkursverwaltung ihren Mitarbeitenden zu kündigen. Auch die kommenden vierzehn Tage ist sie dort, um alle noch ausstehenden HR-Tätigkeiten zu erledigen.
Beeindruckende Solidarität
Nicht weniger traumatisch erlebt Nadja Primavera das Ende von Charles Vögele. Als alleinige HR-Businesspartnerin für alle Schweizer Niederlassungen verantwortlich, nimmt sie die vielen Klagen der Mitarbeiterinnen entgegen, die sich über Arbeitszeitkürzungen beschweren, und jene der Store Manager, die zu wenige Mitarbeitende haben, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.
Zeitgleich steigen die Krankheitsfälle dramatisch an. Eine organisatorische Herausforderung für Primavera. «Ich habe versucht, so gut es ging, das Personal zwischen den Läden zu verschieben und die Mitarbeitenden damit zu motivieren, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden, bis wir wieder auf Kurs kommen.» Aber auch diese letzte Hoffnung erlischt. Ende Mai 2018 geht die ehemalige Charles Vögele AG in die Nachlassstundung.
Am 2. August 2018 wird der Konkurs eröffnet. «Das hat meine Situation schlagartig verändert. Wir haben verschiedene Task Forces gebildet, um uns bestmöglich auf den Konkurs vorzubereiten.» Beispielsweise, indem das HR-Team die dritte Massenentlassung für die verbliebenen 800 Mitarbeitenden vorbereitet, alle Arbeitsverträge kündigt, Infoveranstaltungen für Mitarbeitende in Zusammenarbeit mit den RAV organisiert und die Filialen innert kürzester Zeit schliesst. Sie bleibt bis zuletzt. «Ich sass an meinem Schreibtisch, während neben mir Schränke, Stühle, Tische abtransportiert wurden und die Käufer wie auf einem türkischen Bazar darum feilschten.» Am Schluss hätten die verbleibenden Mitarbeitenden angepackt und aufgeräumt, um die Büroräumlichkeiten per Ende Juli abzugeben – um Mietkosten zu sparen.
Das Aus der stolzen Fluggesellschaft
Die wohl unrühmlichste Firmenpleite aller Zeiten erlebte die Schweiz im Jahr 2001 mit dem Untergang ihrer stolzen nationalen Fluggesellschaft. Im Zentrum des Sturms: Matthias Mölleney, damaliger HR-Leiter. «Dass sich die Swissair in einer schwierigen Lage befand, wussten wir schon zwölf Monate vor dem Grounding. Dass es aber so existenzbedrohend werden könnte, war für uns erst wenige Tage zuvor erkennbar.» Vom plötzlichen Aus der Airline erfährt Matthias Mölleney auf dem Rückweg zum Flughafen nach einem Treffen mit dem kantonalen Amt für Arbeit und Wirtschaft. «Ich habe übers Autoradio vom Ende des Flugbetriebs der Swissair gehört. Das war ein extrem trauriger Moment.»
Nach dem abrupten Swissair-Grounding steigt auch für Matthias Mölleney die Arbeitsbelastung dramatisch an. Er kümmert sich um die Information aller Mitarbeitenden, bringt Gewerkschaften und Mitarbeitervertretungen an einen Tisch, kontaktiert Behörden, um die Mitarbeitenden besser zu unterstützen, organisiert ein temporäres Jobcenter für die weltweit 35 000 Swissair-Angestellten und findet innert einer Woche neue Ausbilder für die Lernenden bei anderen Schweizer Grossunternehmen. Auch die im Ausland gestrandeten Swissair-Crewmitglieder holt er zurück und gründet daneben verschiedene Task Forces: etwa für das fliegende Personal, das Bodenpersonal und für Themen, die von der Jobvermittlung bis zu Fragen zur Pensionskasse reichen.
Trügerische Rettung
Dabei beginnt zumindest bei Charles Vögele noch alles hoffnungsvoll, als das Modehaus 2014 eine Werbekampagne mit Til Schweiger und den Cruz-Schwestern startet, um das Unternehmen in der Modelandschaft neu zu positionieren. Doch die Kunden beissen nicht an und die Umsätze bleiben rückläufig. Die Aufhebung des Euro-Mindestkurses im Januar 2015 bedeutet einen weiteren Rückschlag für das Modeunternehmen. Trotz der ungünstigen Ausgangslage soll Charles Vögele innert zwei Jahren wieder schwarze Zahlen schreiben. Solange haben Kreditgeber ihre Unterstützung zugesichert.
Ende 2016 dann die Erleichterung: Mit der Sempione Retail AG findet man einen Käufer, der sich zu einem grossen Teil in der Hand des italienischen Modekonzerns OVS befindet und Charles Vögele wieder auf Kurs bringen soll. In der Folge kommt es bei Charles Vögele zu Umstrukturierungen: Die Designabteilung und der Einkauf werden in Italien zusammengelegt, was zwei Massenentlassungen am Charles-Vögele-Hauptsitz in Pfäffikon SZ nach sich zieht. Zeitgleich wird das Unternehmen in Sempione Fashion umbenannt, die ehemaligen Charles-Vögele-Filialen werden fieberhaft umgebaut und unter dem neuen Brand OVS wiedereröffnet.
Doch auch diese Strategie fruchtet nicht. «Anfang 2018 war mir klar, dass bald etwas Einschneidendes passieren muss, damit wir überleben», sagt die ehemalige HR-Businesspartnerin Nadja Primavera. Noch im Januar bewahrheiten sich ihre Befürchtungen: «Wir mussten dras-tische Personaleinsparungen machen, die Arbeitseinsätze der im Stundenlohn Beschäftigten stark reduzieren und auf Neueinstellungen verzichten.» Diese Signale werden auch von den Mitarbeitenden wahrgenommen. «Die meisten haben begriffen, dass es uns nicht mehr gut geht.»
Plötzlich ist alles anders
Monika Bütikofer kommt als HR-Leiterin zum Küchenbauer Bruno Piatti, als das deutsche Mutterhaus Alno im Juli 2017 bereits in eine bedrohliche Schieflage geraten war und Insolvenz angemeldet hatte. «Wir hatten volle Auftragsbücher und standen vor einem Rekordjahr», erinnert sie sich. «Wegen der Insolvenz des deutschen Mutterhauses wurden wir aber nicht mehr mit Küchen beliefert.» Demzufolge konnten Arbeiten auf den Baustellen nicht ausgeführt und die erbrachten Dienstleistungen nicht in Rechnung gestellt werden. Die Lage spitzte sich deshalb auch für das Tochterunternehmen zu.
Dennoch herrschte bei Bütikofers Stellenantritt im Sommer 2017 verhaltener Optimismus: «Wir sind davon ausgegangen, dass es im zweiten Halbjahr besser wird und wir einen Investor finden.» Dass eine Marke wie Piatti vom Markt verschwinden könnte, mag sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingestehen. Doch am 14. September 2018 ist es soweit. Über das Unternehmen wird der Konkurs verhängt und von da an ist alles anders.
Bis zum bitteren Ende
«Die meisten Mitarbeitenden sind bis zum Schluss bei Charles Vögele geblieben, obwohl nichts mehr zu retten war», erinnert sich Primavera «das hat mich sehr beeindruckt.» Besonders betroffen machen sie die Schicksale einzelner Menschen, die um ihre Existenz bangen. «Gerade da fiel es mir schwer, Abstand zu nehmen.»
Für die Mitarbeitenden der Verkaufsstellen, die in den letzten Verkaufstagen mit ihren Kunden «die schlimmsten Erfahrungen» gemacht haben, hat sie grossen Respekt. «Ich sah Videos, auf denen Kunden in den Kabinen die Kleider einfach auf einen Haufen schmissen.» Das Personal habe nicht mehr ausgereicht, um ihnen hinterherzuräumen. Dass Drucksituationen häufig nicht die besten Seiten in Menschen hervorbringen, erlebt auch Monika Bütikofer, als Kadermitarbeitende im militärischen Befehlston sie dazu zu bewegen versuchen, einzelne Mitarbeitende finanziell zu bevorzugen. Dass sie vehement Gegensteuer gibt, sind sich die Männer vom HR nicht gewohnt.
Die Zusammenarbeit mit den Ämtern gestaltet sich für die drei HR-Verantwortlichen nicht immer einfach. «Meinen Frieden mit den Konkursbeamten habe ich erst an der vom Amt organisierten Informationsveranstaltung für Mitarbeitende geschlossen», sagt Monika Bütikofer. Denn diese Zusammenkunft habe bei den Konkursbeamten einige Ängste ausgelöst. Wie würden die Mitarbeitenden reagieren? War mit Wut oder Drohungen zu rechnen? Kurzerhand übernimmt Bütikofer die Eingangskontrolle und signalisiert damit, dass nichts geschehen kann. «Von da an konnten wir vernünftig miteinander reden und ich konnte meinen Ärger begraben.»
Ein Vor-Ort-Interview der Medien mit einer ALV-Mitarbeiterin droht diesen fragilen Frieden zu stören. «Sie sagte, dass wir die September-Löhne noch erhalten hätten.» Das stimmte nicht. Über die Insolvenzentschädigung hätten die Mitarbeitenden später zwar einen Teil ihrer ausstehenden Löhne erhalten, «bis dahin war es aber für alle ein weiter Weg». Unter anderem deshalb, weil die Konkursbeamten allen Mitarbeitenden geraten hätten «nicht sofort aufs RAV zu rennen». Das Amt wäre damit überfordert. «Es war ein Fehler, auf die Beamten zu hören», gesteht Bütikofer. «Man sollte sich auf jeden Fall sofort beim RAV melden.»
Mit fehlerhaften Angaben amtlicherseits bekommt es auch Nadja Primavera zu tun. «Die RAVs haben nicht einheitlich kommuniziert und widersprüchliche Angaben gemacht.» In einer chaotischen Situation wie bei der Endabwicklung einer Firma sei das nicht gerade hilfreich. «Wir mussten vieles durch intensive Mitarbeiterkommunikation geradebiegen.» Waren die Ämter überfordert? Gewiss. «Eine Nachlassstundung in Kombination mit unserer Unternehmensgrösse war für sie neu.»
Dass das Vorgehen der Ämter nicht immer zum Vorteil der Mitarbeitenden ist, weiss auch Matthias Mölleney. Grundsätzlich habe ein Sachwalter zwar die Interessen aller Gläubiger zu berücksichtigen, doch auch die Mitarbeitenden seien Gläubiger.
Dennoch wird den 350 Frühpensionierten vom Sachwalter der Swissair mitgeteilt, dass er nichts mehr zahlen werde. Sie müssten ihren Lohn auf dem Rechtsweg einklagen. Weil sie als Frühpensionierte aber nicht als vollwertige Angestellte galten, konnten sie keine Arbeitslosenentschädigung einfordern. Mölleney gründete deshalb kurzerhand eine Stiftung mit einer Laufzeit von fünf Jahren, die den Betroffenen unter anderem ein Darlehen gab, das sie nach erfolgter Lohnzahlung zurückerstatten konnten.
Vorbereitung ist alles
Ein Rat an HR-Fachleute, die ähnliches durchleben? «Am wichtigsten ist es, auf schwierige Situationen gut vorbereitet zu sein», sagt Matthias Mölleney. Dass bei der Swissair das Krisenmanagement ständig eingeübt wurde, habe damit zu tun, dass im Fluggeschäft «immer etwas Schlimmes passieren kann». Dies habe geholfen, auch mit der Konkurs-Situation fertig zu werden. «Es war völlig klar, wer was wann zu tun und wer welche Entscheide zu treffen hatte.»
Zudem seien die Kommunikationskanäle etabliert gewesen, um alle Beteiligten rasch zu informieren. Wenn die Emotionen hochgehen, sei eine solche Krisenplanung hilfreich, um automatisch richtig zu handeln. «Dies einzuüben ist etwas völlig anderes, als ein Handbuch zu lesen.»
Noch bevor irgendwelche Pläne geschmiedet werden, erachtet es Nadja Primavera als notwendig, «die Ruhe zu bewahren und nicht in Aktionismus zu verfallen oder sich in Belanglosigkeiten zu verlieren». Ausserdem müsse das HR mit den Mitarbeitenden verstärkt kommunizieren und ein offenes Ohr für sie haben, um Verunsicherungen zu vermeiden.
Ähnliches empfiehlt Monika Bütikofer. «Was die Personalabteilung in solchen Momenten sagt, wiegt schwerer, als man wieder gutmachen kann.» Das HR müsse standfest sein und nur in Abstimmung mit der Geschäftsleitung agieren. Mache es das HR richtig, könne es für die Mitarbeitenden «ein Fels in der Brandung» sein. Daneben, so Mölleney, solle das HR «nicht zögern, von Kollegen Rat einzuholen, die eine solche Situation schon durchgemacht haben und einen engen Kontakt zu den Behörden halten».