Erfolgreiche Personalauswahl: Bauchgefühl versus Verstand
Bei der Selektion von Personal gilt es, vielfältige Informationen aus CVs, Zeugnissen, Gesprächen und anderen Quellen zu einem Gesamturteil zu vereinigen. Ob eine intuitive oder rechnerische Entscheidungsfindung überlegen ist, klärt dieser Beitrag.
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Nicht nur in der betrieblichen Personalauswahl, sondern auch in vielen anderen Bereichen müssen komplexe Informationen über menschliches Verhalten zu einem Gesamturteil integriert werden. Auswahlkomitees von Begabtenstiftungen haben die Aufgabe, die begabtesten Studie-renden auszuwählen, Berufungskommissionen sollen die besten Professorinnen und Professoren berufen, Gutachter sollen die Fahreignung von Chauffeuren beurteilen. Grundlage für all diese Entscheidungen sind vielschichtige Informationen aus verschiedenen Quellen wie etwa Verhaltensbeobachtungen, beispielsweise aus Assessment Centern (AC) oder Informationen aus Gesprächen. Die Beurteiler stehen vor der schwierigen Aufgabe, umfangreichste, sich oftmals widersprechende Informationen zu einer Gesamtbewertung zusammenzufassen.
Von der Strategie zur Empfehlung
Es bieten sich unterschiedliche Strategien an, wie die Einzelinformationen zu einer Empfehlung verdichtet werden können. Eine Möglichkeit besteht darin, sich einer ganzheitlichen (holistischen) Strategie zu bedienen, indem die vorliegenden Einzelteile über eine intuitive Experteneinschätzung zusammengefügt werden. Die Bewertenden gewichten die Informationen im Lichte ihrer Erfahrungen, nehmen individuelle Abwägungen vor und beziehen mitunter auch ihr Bauchgefühl mit ein. Dem holistischen kann ein standardisiert-rechnerischer Ansatz gegenübergestellt werden, der auch als statistischer Ansatz bezeichnet wird. Die Entscheidungskriterien sowie deren Gewichtung werden vor dem eigentlichen Assessment festgelegt. Die im Assessment erhobenen Informationen werden dann nach den zuvor festgelegten Regeln rechnerisch zu einer Gesamtbewertung verknüpft.
Aber nicht nur die Urteilsbildung selbst kann holistisch, beziehungsweise standardisiert ablaufen. Bereits bei der Durchführung der einzelnen Komponenten, seien es Rekrutierungsgespräche, AC-Übungen oder Auswertungen von CVs, kann man sich auf standardisierte Bewertungshilfen abstützen oder aber der Intuition mehr Raum geben und ganzheitliche Urteile abgeben. Je nachdem, wie die beiden Strategien im Zuge der Informationsgewinnung und -bewertung kombiniert werden, ergeben sich rein holistische oder rechnerische Beobachtungs- und Urteilsstrategien oder auch kombinierte Strategien.
Keine philosophische Frage
Bei der Frage, welcher Strategie man den Vorzug geben sollte, handelt es sich nicht um eine philosophische, sondern um eine empirische Frage, die anhand fundierter Studien beantwortet werden kann. Die jüngste, 2013 veröffentlichte Übersichtsarbeit stammt von einer Gruppe US-amerikanischer Forscher um Nathan Kuncel und kommt zum Ergebnis, dass holistische Urteile in der Personalauswahl weniger aussagekräftig sind. Sowohl die Arbeitsleistung als auch das berufliche Vorankommen können durch systematisch gewonnene Urteile besser vorhergesagt werden als durch holistische.
Auf den ersten Blick verwundert es, warum einfache Verrechnungsregeln überlegen sein sollen. Wie kann eine simple rechnerische Verknüpfung von Einzelinformationen eine vielschichtige und dem Einzelfall angepasste Experteneinschätzung übertreffen? Hierauf gibt es gleich mehrere plausible Antworten. Zum einen vertrauen holistische Beurteiler zu sehr auf einige wenige – meist deutlich herausstechende – Informationen. Weiterhin sind holistische Urteile oftmals intransparent. Es werden fallweise einzelne Bewerberaspekte wie Berufserfahrung, Kenntnisse, Fähigkeiten oder Persönlichkeitsmerkmale beobachtet und individuell bewertet, ohne dass zuvor festgelegt wurde, welche Aspekte auf welche Weise in die Bewertung eingehen sollen. Hierdurch wird gleich mehreren Fehlerquellen Tür und Tor geöffnet. Die Urteile sind stark situationsabhängig, denn sie beruhen auf einzelnen Verhaltensausschnitten, die in der betreffenden Situation (zum Beispiel Assessment Center) gerade beobachtet werden konnten. Zudem ist die Gewichtung von Einzelaspekten subjektiv und fallabhängig. Und nicht zuletzt geht der Bezug zu den Stellenanforderungen verloren.
Anders als bei der Informationsintegration wirken sich holistische Bewertungen auf der Ebene der Informationssammlung nicht ganz so nachteilig auf die Qualität der Personalauswahl aus. Dies gilt insbesondere dann, wenn man holistische Verfahren mit standardisierten Auswahlverfahren kombiniert. Dennoch: Auch in der Phase der Informationssammlung ist ein möglichst standardisiertes Vorgehen einem unstandardisierten überlegen und zeigt mehrere Vorteile. Zum einen werden die Informationen immer in Bezug zu den Anforderungen erhoben. Hierdurch wird nicht nur die Relevanz der jeweiligen Information sichergestellt, sondern die Verwender sichern sich auch dagegen ab, dass sie wichtige Informationen übersehen. Weiterhin stellt die Standardisierung eine bessere Vergleichbarkeit von verschiedenen Assessments sicher. Nicht zuletzt reduzieren Standardisierungsmassnahmen systematische Fehler: Einer selektiven Wahrnehmung wird entgegengewirkt und die Informationsverarbeitung wird durch unterstützende Bewertungshilfen (zum Beispiel Checklisten für Interviewbeobachtungen) erleichtert.
Unzeitgemässe evolutionäre Anlagen
Holistische Personalauswahl wird nach wie vor von vielen Anwendern betrieben. Wir finden holistische Elemente im gesamten Prozess der Personalauswahl: angefangen bei der intuitiven Einschätzung von Bewerbungsunterlagen über unstandardisierte Rekrutierungsgespräche so-wie unsystematische Beobachterkonferenzen in ACs bis hin zur endgültigen Entscheidungsfin-dung. Eine holistische Informationserhebung und -bewertung ist jedoch aus fachlicher Sicht nicht empfehlenswert und entspricht nicht den Prinzipien einer evidenzbasierten Praxis.
Warum lösen wir uns dennoch so ungern von einer holistischen Eindrucksbildung? Wichtigster Grund ist, dass viele Anwendende der Überzeugung sind, dass holistische Bewertungen aussagekräftiger sind. Es fühlt sich «richtig» an, sich einen subjektiven Gesamteindruck zu bilden, und es befremdet hingegen, wenn man die Eignung eines Bewerbers in kleinteiligen Einzelbewertungen feststellen soll. Möglicherweise kommen uns hier unsere evolutionär angelegten Tendenzen in die Quere. Unsere Vorfahren mussten ihr Gegenüber innerhalb kurzer Zeit einschätzen: Kann ich der Person vertrauen, kann ich mich auf sie verlassen? Ist sie loyal? Hier war ein schnelles Urteil gefragt. Allerdings ist dieses Urteil, das auch heute noch automatisch in uns entsteht, nicht sehr differenziert und nicht tauglich, die Eignung eines Bewerbers für ein komplexes Anforderungsprofil zu prüfen.
Fazit
Es gibt keine einfache Lösung für dieses Dilemma. Professionelle Anwender müssen sich über irrationale Widerstände hinwegsetzen und sollten einem standardisierten, systematischen Vorgehen dort den Vorzug geben, wo es möglich ist. Es gibt Auswahlschritte, in denen die Umsetzung dieses Ratschlags leicht fällt. Hierzu gehört das Prescreening des Bewerberpools anhand der Bewerbungsunterlagen. Grösser sind die Widerstände bei Rekrutierungsgesprächen und anderen interaktiven Verfahren. Widerstände können hier abgemildert werden, indem neben standardisierten auch freien Gesprächselementen Raum gegeben wird.
Am grössten sind die Widerstände sicher gegenüber der statistischen Urteilsbildung in ACs und bei der abschliessenden Stellenbesetzung. In beiden Fällen wird man sich nicht auf einen rein rechnerisch bestimmten Wert verlassen wollen. Aber auch hier gilt: Messen Sie den standardisiert-systematisch zustande gekommenen Bewertungsgrundlagen hohen Wert bei und stützen Sie sich massgeblich hierauf ab. Abweichende Entscheide sollten dokumentiert werden und in den Fällen, in denen sich die Entscheidung als richtig erwiesen hat, zur Optimierung des systematischen Vorgehens genutzt werden.
Weiterführende Literatur
- Kuncel, N. R., Klieger, D. M., Connelly, B.S . & Ones, D. S. (2013). Mechanical versus clinical data combination in selection and admissions decisions: a meta-analysis. The Journal of Applied Psychology, 98 (6), 1060–72.