Es geht um den Menschen
Erinnern Sie sich an die Vertrauensarbeitszeit? Ein Wort, das aus den Fachzeitschriften verschwunden ist. Der Fall des Barista, der schriftlich abgemahnt wird und der sich mit einem Gefälligkeitszeugnis durch einen Arzt krankschreiben lässt, macht deutlich: Vertrauen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern funktioniert – aber sicher nicht flächendeckend.
Reglemente heissen so, weil sie Verhaltensregeln definieren. Ohne Führungskräfte, welche die Einhaltung von Regeln kontrollieren, kann keine vertrauensvolle Zusammenarbeit entstehen. Dies ist für die Zusammenarbeit zwischen Arzt, Unternehmen und Mitarbeiter ebenso gültig. Richter und Juristen sollten nicht über die Arbeitsfähigkeit eines Mitarbeiters entscheiden – das müssen Ärzte tun. Und diesen müssen wir vertrauen können.
Gefälligkeitszeugnisse wurden für Versicherungsgesellschaften zum Thema, weil die Kosten für Krankentaggeld und Invalidität explodierten. Generell wurde versäumt, die tieferen Ursachen des Absentismus zu hinterfragen. Vorbeugen statt heilen ist sicher das richtige Motto. Nur gilt auch: wo eine zunehmende Nachfrage – da ein zunehmendes Angebot.
Woher kommt es aber, dass die Nachfrage nach Gesundheitsprävention und die Nachfrage nach Vertrauensärzten derart zunehmen? Ich vermute, dass dies mit den Veränderungen in der Wirtschaftswelt zu tun hat. Die Vertrauensverhältnisse zwischen Arbeitgebenden, Arbeitnehmenden, zwischen Versicherern und Versicherten, zwischen Lieferanten und Kunden und zwischen Politikern und Bürgern, ja sogar zwischen Journalisten und Lesern ist derzeit auf einem Tiefpunkt angelangt. Alle reden von Ethik – aber nur wenige wenden das erste Prinzip der Ethik an: Wahrhaftigkeit.
Eine Wirtschaftswelt, die auf unendlichem Wachstum, grenzenlosem Wettbewerb und fressen oder gefressen werden basiert, kann niemals die gleichen Vertrauensverhältnisse etablieren wie eine Wirtschaftswelt, wie wir sie im Zeitalter der EFTA noch hatten: eine soziale Marktwirtschaft.
Wird der Wettbewerb härter, dann verhärten sich auch die Arbeitsverhältnisse und damit die zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus dieser Verhärtung der Beziehungen entwickeln sich neue Angebote: Vertrauensärzte, Juristen, Disability Manager, Gewerkschaften und weitere Branchen erfreuen sich steigender Umsätze und steigern das Sozialprodukt. Wer jedoch die Wohlfahrt steigern will, könnte sich wahrhaftig mit der Frage befassen, wie wir wieder zurückfinden könnten zu einer dauerhaft menschlichen Arbeitswelt.
Aus der Zeitforschung gibt es Erkenntnisse, die von Politik und Wirtschaft, aber auch von Arbeitswissenschaftlern nicht weiter ignoriert werden sollten. Es geht um den Menschen – nicht um die Kosten und schon gar nicht um das Wachstum von Branchen, die eher auf Krankheit als auf Gesundheit hinweisen.
Das Buch «Healthy Economy» von Thomas Mattig, Direktor von Gesundheitsförderung Schweiz, ist ein Lichtblick in die richtige Richtung.