Zur Deutung von Arztzeugnissen
Lohn ist das Entgelt für geleistete Arbeitszeit. Aber nicht nur. Bei unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers muss die Arbeitgeberin für eine gewisse Zeit den Lohn fortzahlen. Sie wird dadurch faktisch zu einer «Erwerbsausfallversicherung». Bei langfristiger Krankschreibung wegen eines Arbeitskonflikts lohnt es sich im Verdachtsfall, genauer hinzusehen. Denn wer auf effizient genutzte Arbeitszeit achtet, sollte auch Lohn ohne Leistung nicht tolerieren.
(Bild: Jonas Raeber)
Ein Barista arbeitet Teilzeit in einer Kaffeebar – Donnerstag, Freitag und Samstag. Nach Jahren lässt die Arbeitsleistung nach. Es folgen vier schriftliche Abmahnungen, der Arbeitsstreit eskaliert offen. Am Montag geht der Barista zum Arzt. Er brauche eine Pause vom belastenden Konflikt am Arbeitsplatz, sagt der Barista. Der Arzt schreibt ihn (am Montag) für die Zukunft, nämlich für seinen nächsten Arbeitseinsatz am kommenden Donnerstag, Freitag und Samstag «wegen Krankheit» generell arbeitsunfähig, und zwar genau für diese drei Tage. Die Arbeitgeberin hält das für ein offensichtliches Gefälligkeitszeugnis, für eine Provokation, und kündigt fristlos.
Kurz darauf macht der Anwalt des Arbeitnehmers geltend, die fristlose Kündigung sei rechtsmissbräuchlich gewesen. Die Arbeitgeberin müsse (nebst einer Strafzahlung als Genugtuung) den Lohn für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist nachzahlen. Zudem sei der Barista immer noch arbeitsunfähig. Bei sechs Dienstjahren müsse die Arbeitgeberin somit nach Berner/Basler/Zürcher Skala weitere 12 Wochen Arbeitsunfähigkeitslohn zuzahlen.¹ Der Anwalt legt seinem Schreiben ein zweites Attest des gleichen Arztes bei. Darin wird dem Arbeitnehmer aus «gesundheitlichen Gründen», aber nur «arbeitsplatzbezogen» für 90 Tage (also rund 12 Wochen) Arbeitsunfähigkeit bescheinigt – passend zu den 12 Wochen Lohnfortzahlung, die der Arbeitnehmer verlangt.
Berechtigtes Misstrauen
Mit dem Wechsel von «genereller» (erstes Attest) zu «arbeitsplatzbezogener» Arbeitsunfähigkeit (zweites Attest) wird die Vermittelbarkeit wieder erstellt und der Verlust von Arbeitslosengeldern verhindert.² Trotzdem bleibt der Barista arbeitsrechtlich arbeitsunfähig, was (wie in diesem Fall vom Arbeitnehmeranwalt verlangt) den Lohn während der ordentlichen Kündigungsfrist massiv erhöhen kann. Die Lohnfortzahlungspflicht bei «arbeitsplatzbezogener» Arbeitsunfähigkeit ist in der Literatur allerdings seit Jahren umstritten. Das Bundesverwaltungsgericht hat zum einschlägigen Art. 336c OR vor Kurzem wörtlich ausgeführt: «Im Fall einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit ist Art. 336c OR nicht anwendbar.»³
Schliesslich änderte der Grund der Arbeitsunfähigkeit von «Krankheit» (erstes Attest) zu «gesundheitlichen Gründen» (zweites Attest). Gesundheitliche Gründe können – wie beispielsweise bei Schwangerschaft – Arbeitsunfähigkeit begründen, ohne medizinisch oder juristisch Krankheitswert aufweisen zu müssen. Zum Beweis von Arbeitsunfähigkeit vor Gericht wird die Beweishürde des Arbeitnehmers mit dem Wechsel von «Krankheit» zu «gesundheitlichen Gründen» also tiefer gelegt.
Das zweite ärztliche Attest scheint jedenfalls an arbeitsrechtliches Spezialwissen angepasst. Das weckt Misstrauen. Im Gerichtsfall würde man wohl drei Aspekte dieses Falls genauer erörtern:
- Erstens wird ärztlichen Attesten oft – zwar nicht von Gesetzes wegen, aber faktisch – die Überzeugungskraft eines Anscheinsbeweises zugestanden. Im Streitfall muss die Arbeitgeberin also mit der Verdachtslage argumentieren, um den Anschein der Richtigkeit der beiden ärztlichen Zeugnisse zu zerstören. Gelingt das, wird es für den Barista erheblich schwieriger, beim Gericht dennoch die Überzeugung zu bewirken, er sei im fraglichen Zeitraum (zunächst drei Tage, dann 90 Tage) mit «an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» wirklich arbeitsunfähig gewesen (sogenannter «Vollbeweis»).
- Zweitens kann die Arbeitgeberin zur Frage, wer wann was mit wem be- oder schlimmstenfalls gar abgesprochen hat, den Arzt und den Anwalt des Barista als Zeugen zum Beweis offerieren. Weigert sich der Barista, den Arzt oder den Anwalt von deren Berufsgeheimnis zu entbinden,⁴ kann das Gericht dieses Verhalten nach freiem Ermessen würdigen.
- Drittens stellt sich die Frage, ob der Arzt seinen Befund sorgfaltspflichtgemäss erhoben hat. In der juristischen Literatur wird dazu wiederkehrend die Ansicht vertreten, Ärzte dürften nicht einzig auf die Schilderungen des Arbeitnehmers abstellen, sondern müssten zudem «eigene Untersuchungen» vornehmen. Was aber sind «eigene Untersuchungen»? Weder Rechtsprechung noch juristische Literatur definieren sie. Ich versuche hier eine Verdeutlichung:
Bei Unglaubwürdigkeit nachhaken
Der Befund «Husten und Schmerzen im Brustkorb» kann zur Diagnose «Lungenentzündung» führen. Beides, Befund und Diagnose, darf der Arzt der Arbeitgeberin grundsätzlich nicht mitteilen. Stellt der Arzt aber eine Krankheit oder einen Unfall als Grund der Arbeitsunfähigkeit fest, hat er das im ärztlichen Attest anzugeben – für die Triage Krankentaggeld- oder Unfallversicherung. Zudem sollen Ärzte auf dem Attest (in Beachtung der Treuepflicht des Arbeitnehmers) die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit oder – bei unbestimmbarer voraussichtlicher Dauer – das Datum der nächsten Konsultation bekanntgeben, damit die Arbeitgeberin planen kann.
Der Arzt soll zudem die Patientenschilderungen im Rahmen der Anamnese⁵ hinterfragen und bei Unglaubwürdigkeit oder Unklarheiten nachhaken. Der Arzt muss aber bei der ersten und nur kurzfristigen Krankschreibung keinen objektivierbaren Befund erstellen. Sinnvoll ist dann der Hinweis auf dem Attest, die Bescheinigung beruhe auf glaubhaften Angaben des Patienten.
Der Ansatz «Soll ich Sie krankschreiben?» (als Reaktion auf eine geschilderte belastende Arbeitsplatzsituation) widerspricht meiner Ansicht nach der ärztlichen Sorgfaltspflicht. Denn entweder ist der Patient aus medizinischer Sicht (und funktionsbezogen) arbeitsunfähig oder nicht. Sein diesbezügliches Ermessen darf der Arzt nicht dem Arbeitnehmer überlassen. Wenn der Arbeitnehmer möchte, kann er trotz ärztlichem Dispens weiterarbeiten, auch wenn er damit juristisch dann den Tatbeweis seiner Arbeitsfähigkeit erbringen dürfte.
Mehr als nur die Faust im Sack
Wohl die meisten Arbeitgeberinnen neigen dazu, ärztliche Atteste für sakrosankt zu halten. Man kann sich nicht vorstellen, Ärzte würden vorsätzlich falsche Gefälligkeitszeugnisse ausstellen und damit Strafbarkeit riskieren (Art. 318 StGB). Das trifft wohl zu. Aber Ärzte unterscheiden hin und wieder ihre guten Absichten zu wenig von medizinischen Gründen für das Bescheinigen von Arbeitsunfähigkeit. Das leichtfertige Ausstellen ärztlicher Atteste ist rechtlich durchaus angreifbar, wenn man weiss, wie man ärztliche Atteste lesen muss. Bei arbeitsplatzbezogener Krankschreibung während eines Arbeitskonflikts bleibt Arbeitgeberinnen also mehr, als nur die Faust im Sack zu machen.
Quellen:
- ¹ Art. 336c Abs. 2 i.V.m. Art. 337c Abs. 1 OR sowie Art. 324a Abs. 1 OR.
- ² Vgl. Art. 15 und 28 Abs. 1 AVIG. Der Aspekt der selbstverschuldeten Arbeitsunfähigkeit sei hier ebenso ausgeklammert wie die Frage der Subrogation, also des Eintritts der Arbeitslosenkasse in Lohnforderungen, für die sie bereits Taggelder ausgerichtet hat.
- ³ BVGer A_2718/2016 vom 16.03.2017, Erw. 9.1.3.2; indirekt gleich entschieden in BGer 4A_391/2016 vom 08.11.2016, Erw. 5.2.
- ⁴ Vgl. Art. 166 Abs. 1 lit. b ZPO.
- ⁵ Anamnese = sachkundige Erfragung von medizinisch allenfalls relevanten Informationen durch den Arzt.