HR Today Nr. 11/2019: Wissensmanagement II

«Es reicht nicht zu behaupten, man könne gut singen»

Führungskräfte und Mitarbeitende wissen meist, was zu tun ist. Dennoch hapert es häufig daran, dieses Wissen in die Tat umzusetzen. Stattdessen entstehen ausufernde Konzepte und perfektionistische Pläne. Doch wie kommt man vom Reden ins Tun? Wir haben die entsprechende Studie von Jeffrey Pfeffer und Robert I. Sutton neu betrachtet und Expertenmeinungen eingeholt.

«Firmen ersetzen das Tun mit Reden», erkannten die beiden Harvard-Professoren Jeffrey Pfeffer und Robert I. Sutton schon vor 20 Jahren in ihrer Studie «The Knowing-Doing Gap». «Sie tun so, als genüge es, eine Mission zu entwerfen, diese auf kleine Karten und Poster zu drucken, um damit die Leistungsfähigkeit einer Firma zu erhöhen.»

Sind Mission-Statements demnach eine andere Art des Nichtstuns? Nein, meint zumindest Professor Stefan Baldi von der Munich Business School, der sich mit der Studie vertieft auseinandergesetzt hat. «Wenn ein Mission-Statement von allen Stakeholdern gemeinsam erarbeitet und um den Inhalt gerungen wird, stellt es eine Art Kompass dar, der das Sein bestimmt.» Es beantworte Fragen wie: Was ist wirklich wichtig? Für welche Werte stehen wir? Nur in einem solchen Kontext bekommen Wissen (Knowing) und Handeln (Doing) einen Sinn. Eine Lücke (Gap) könne entstehen, wenn sich das Handeln im Widerspruch zu den eigenen Werten befinde oder sich das vermittelte Wissen auf Fachkompetenzen ohne Bezug zum Wertesystem beziehe. «Wer sich beispielsweise mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, sollte sich auch über die gesellschaftlichen Folgen Gedanken machen», sagt Baldi.

Zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Rhetorisch Begabte hätten es in Firmen leicht, von sich zu überzeugen, meinen Sutton und Pfeffer: Wer sich selbstbewusst gibt, sich gut ausdrückt, über ein breites Vokabular verfügt und eloquent wirkt, erhalte häufig Vorschusslorbeeren. «Mit dem Siegeszug der sozialen Medien hat sich die Tendenz verstärkt, über Dinge zu reden, über die man nichts weiss, und sich damit Gehör zu verschaffen», sagt Baldi. «Unsere Kinder lernen heute schon früh, wie andere sich in den sozialen Medien darstellen.» Wichtig sei, den Unterschied zwischen diesen Inszenierungen und der Realität zu kennen. «Früher war klar, dass Hollywoodfilme erfundene Geschichten sind. Selbstdarsteller machen es heute jedoch schwerer, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu erkennen.» Dem Wunsch, mitzuhalten, können sich viele nicht entziehen. Umso wichtiger sei es, «Reden nicht mit Wissen zu verwechseln».

Die Kompetenz, gut reden zu können, ist für Stefan Baldi zwar wichtig, aber: «Gut zu reden und nichts zu sagen, ist genauso problematisch, wie viel zu wissen und sich nicht mitteilen zu können.» Letztlich brauche es beide Kompetenzen. «In einer Castingshow wird ja auch die Probe aufs Exempel gemacht. Es reicht nicht zu behaupten, man könne gut singen. Man muss es auch tun.»

Der Unterschied zwischen der Eigenwahrnehmung der Gesangskompetenz und der beim TV-Auftritt offenbarten Künste der Castingteilnehmenden sei ein Teil der manchmal zweifelhaften Unterhaltungskonzepte. «Die Momente des Fremdschämens offenbaren die Lücke zwischen Reden und gesanglichem Talent.» Bei Bewerbungen solle man deshalb öfter «live vorsingen lassen» und sich nicht auf ein aufgezeichnetes und optimiertes Video verlassen. Konkret bedeute das, die Problemlösungskompetenz durch nachprüfbare Referenzen oder konkrete Arbeitsproben unter Beweis stellen zu lassen. «Ein erheblicher Aufwand, der sich aber lohnt.»

Was interne Selbstdarsteller angeht, bleibe in Unternehmen auf Dauer nicht verborgen, wer die wahren Leistungsträger seien. Blendern seien Firmen zudem nicht schutzlos ausgeliefert: «Gegen Selbstdarsteller Position zu beziehen, ist eine Führungsaufgabe.» Da sich diese besser verkaufen und verteidigen als andere, erfordere dies wie in einer Castingshow, eben öfters den «Nein-Button» zu drücken.

Nichtstun aus Angst

«Angst schafft Knowing-Doing Gaps, weil Mitarbeitende aus Angst vor Bestrafung neues Wissen nicht anwenden», konstatieren Pfeffer und Sutton. «Wenn sie sich vor einem Jobverlust fürchten, sich Sorgen um ihre Zukunft machen oder Angst um ihren Selbstwert haben, werden sie nur das tun, was sie bereits in der Vergangenheit getan haben.» In einer angstbesetzten Kultur verstecken Mitarbeitende nicht nur schlechte News, sie beschönigen auch den aktuellen Zustand und verfälschen Informationen. Weil Führungskräfte keinen Widerspruch erfahren, hätten sie oft ein komplett falsches Bild ihrer Organisation. «Sie glauben, dass sich nichts ändern muss, obwohl die meisten Mitarbeitenden wissen, dass eine Veränderung nötig wäre und was zu tun ist.» Angst führe in einer Organisation deshalb dazu, vergangene Fehler zu wiederholen, und verhindere, andere Wege zu beschreiten.

Dass es in vielen Firmen um eine konstruktive Fehlerkultur nicht zum Besten bestellt ist, glaubt auch Stefan Baldi. «Gerade im deutschsprachigen Raum tun wir Perfektionisten uns schwer damit, Fehler zu machen und Fehler anderer nicht zu verurteilen. Das müssen wir noch lernen.» Dazu seien die Strukturen der Schul- und Hochschulsysteme nicht sehr geeignet. «Wer im Bildungssystem kreativ ist und Innovationen einbringt, wird oft belächelt oder als inkompatibel zum Bildungsauftrag angesehen.» Eine innovative Bildungskultur brauche auf allen Ebenen mehr aktive Fürsprecher.

Beurteilungssysteme als Guidelines

«Was messbar ist, wird umgesetzt. Was nicht messbar ist, wird ignoriert.» Mit unbeabsichtigten Folgen für die Firmen, sagen Pfeffer und Sutton. «Um kurzfristige Ziele zu erreichen oder diese zu übertreffen, tun Menschen vieles, wovon manches schädlich für die Firma ist oder ihre Entwicklung über eine längere Zeit beeinträch­tigt.» Kein Mitarbeiterbeurteilungssystem erfasse alle wichtigen Performance-Faktoren oder alle Verhaltensweisen, die zum Erfolg einer Firma beitragen. «Beurteilungssysteme dienen als Guide­lines, um das Verhalten der Mitarbeitenden zu beeinflussen, aber nicht, um eigenständiges Denken zu ersetzen.» Dieses sei notwendig, um vom Wissen zum Tun zu gelangen. Ausserdem sei es schwierig oder gar unmöglich, in einem verflochtenen System die Resultate einer einzelnen Person zuzuordnen.

Auch für Stefan Baldi sind schriftlich festgehaltene formelle Mitarbeiterbeurteilungen überbewertet. «Schon das Wort hat eine ungute Konnotation und hinterlässt bei Führungskräften und Mitarbeitenden ein schales Gefühl.» Wichtig sei ein regelmässiger und offener Umgang von Führungskräften und Mitarbeitenden im Arbeitsalltag. «Auf eine bewusste und kritische Reflektion der Beziehung zueinander und der gemeinsamen Arbeitsleistung sollte nicht verzichtet werden.»

Kooperation versus Wettbewerb

Inwiefern eine Firma den internen Wettbewerb schüre, unterliege ihrer freien Wahl, befinden Pfeffer und Sutton. Dabei unterscheiden sich die Unternehmenskulturen massiv. Ein exzessiver interner Wettbewerb untergrabe jedoch die moralischen Grundwerte vieler Organisationen, warnen die beiden Harvard-Professoren. In solchen Unternehmen würde intern wenig Wissen weitergegeben, weil der Wettbewerb um Status und die Aufmerksamkeit des Managements mit dem Wissenstransfer unter den Mitarbeitenden konkurriere.

«Erfolg ist möglich, ohne Mitarbeitende in Gewinner und Verlierer einzuteilen», meinen Pfeffer und Sutton und verweisen auf den Pygmalion-Effekt: «Studenten, deren Lehrer daran glauben, dass sie gute Resultate erzielen, tun es auch.» Haben Führungskräfte eine positive Erwartung gegenüber ihren Unterstellten, erbringen diese auch eine bessere Leistung.

Dass die interne Kooperation bedeutend wichtiger sei als der Wettbewerb, glaubt auch Baldi: «Sie ist in vielen Handlungsfeldern unerlässlich, besonders bei hochkomplexen, interaktiven Aufgaben, die unter Zeitdruck erfolgen.» Dabei stünden die gemeinsamen Ziele und die Kundenperspektive im Fokus der vereinten Anstrengungen und nicht die individuelle, gegeneinander ausgespielte Leistung.

Doch wie kommen Firmen ins Tun? «Dazu müssen viele Massnahmen ineinandergreifen», sagt Baldi. «Führungskräfte müssen Verantwortung übertragen, Kooperation fördern, eine echte Fehlerkultur etablieren und Freiräume schaffen, um nur einige Aspekte zu nennen.» Das gehe mit vielen kleinen Schritten einher. «Beispielsweise, indem sie die Meetingkultur bewusster gestalten.»

Checkliste

Das «Warum» vor das «Wie» stellen
Viele Manager stellen das «Wie» vor das «Warum». Also, wie etwas in detaillierten Schritten, Verhaltensweisen oder Techniken getan wird, anstatt das «Warum» zu betonen und generelle Handlungsempfehlungen abzugeben.

«Knowing» kommt aus dem «Doing» und Gelerntes ist weiterzugeben
Lernen findet statt, wenn Menschen Verschiedenes ausprobieren, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, was funktioniert hat und was nicht, darüber nachdenken, was sie gelernt haben, und sich auf Neues einlassen.

Etwas tun zählt mehr als elegante Pläne und Konzepte
Ohne tätig zu werden, ist Lernen schwieriger und ineffizienter, weil es nicht mit Erleben verbunden ist. Das Bild des «Schiessens» und anschliessenden «Zielens» hilft, eine Kultur zu etablieren, in der Reden und Analysen ohne Aktion inakzeptabel sind.

Es gibt kein Tun ohne Fehler
Bei einer Kultur des Tuns wird es kritisch, wenn Dinge schieflaufen. Auch gut geplante Tätigkeiten können fehlschlagen. Alles Lernen beinhaltet Versagen. Dies ist etwas, aus dem man lernen kann. Angemessene Fehler sollten deshalb niemals abgestraft werden.

Angst fördert Knowing-Doing Gaps – treibe die Angst aus
Angst in Organisationen fördert alle möglichen Probleme, denn Menschen werden nichts Neues ausprobieren, ­sobald ein Fehler ein Karrieredesaster darstellt.

Quelle: «The Knowing-Doing Gap», Jeffrey Pfeffer und Robert I. Sutton, Harvard Business School Press, 2000.

«Das Bildungswesen ist ein Silo» –
Kurzinterview mit Seth Godin

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In einem Ihrer Blogbeiträge zum Learning-Doing Gap schreiben Sie, es brauche meist eine Dekade, bis eine Berufsgattung einen neuen Denkansatz integriere. Weshalb?
Seth Godin:
Das Bildungswesen ist ein Silo, das aus gutem Grund existiert. Es ist aber auch ein Silo, das sich von Experimenten, dem Tun und dem Lernen abschottet. Gleichzeitig schrecken Berufstätige vor Bildung zurück, weil sie sich an ihre Ausbildungszeit erinnern: Sie möchten nicht mehr mit dem Gefühl von Inkompetenz konfrontiert und getestet werden. Dabei wird das Lernen in der Bildung ausgeblendet. Wenn wir den Menschen jedoch beibringen, dass das Lernen mit dem Tun koexistiert, können wir die Bildungskultur verändern.

Können wir uns ein solch ineffizientes Vorgehen in Zeiten der Digitalisierung noch erlauben?
Das können wir uns eigentlich nie erlauben. Wenn Ärzte nicht lernen, sterben Patienten. Wenn Geschäftsführer nicht lernen, verschwinden Unternehmen von der Bildfläche. Die Herausforderung liegt darin, dass die Welt sich so schnell wie nie zuvor verändert und der Zugang zum Lernen praktisch uneingeschränkt ist. Diese Kombination schafft eine perfekte Gelegenheit für Firmen, sich einer Lernkultur anzunehmen.

Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen Bildung und Lernen?
Bildung ist konform, top-down und autoritär organisiert, akkreditiert, es wird getestet und Wissen wiedergekäut. Wenn sich jemand fragt: «Ist das prüfungsrelevant?», befindet er sich im Bildungswesen. Lernen ist, wenn wir eine Reise unternehmen, um uns zu verändern. Lernen erfolgt freiwillig, ist experimentell und mit Fehlern und Fehlstarts verbunden. Es ist etwas, das wir nicht schnell vergessen.

Im selben Blogbeitrag erwähnten Sie zudem, dass gute Schulnoten nicht damit gleichzusetzen sind, ob jemand mit seinem Wissen in der Praxis etwas anfangen kann. Weshalb werden gute Noten dann immer noch so hochgehalten?
Unternehmen haben es nicht leicht. Sie müssen ihre Produktivität steigern, Anforderungen erfüllen und einen Gewinn erwirtschaften. All das basiert auf der Rechnungslegung, auf der Resultatmessung, auf Diplomen, Zertifikaten, einem Nachweis und Schülern, die in einer geraden Reihe sitzen. Die Alternative hierzu ist die chaotische Welt des Lernens. Aber: Organisationen, die nicht lernen, enden angesichts der anstehenden Veränderungen in einem rigiden System mit sinkender Produktivität oder sogar in einer Firmenpleite.

Braucht es in Unternehmen noch Bildung?
Firmen benötigen Bildung – manchmal auch Training genannt –, um beispielsweise die Betriebssicherheit zu gewährleisten. Hauptsächlich müssen sich Organisationen aber entwickeln. Das passiert indes nicht innert zwei Stunden in einem Schulungsraum.

Der US-amerikanische Unternehmer und Bestsellerautor Seth Godin hat über 19 Sachbücher zu Internet- und Marketingthemen publiziert, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Sein Buch «Free Prize Insider» war 2004 auf der Liste der Top-10-Businessbücher im Forbes Wirtschaftsmagazin zu finden. Als Lehrer und Berater hat sich Seth Godin vertieft mit Bildungsfragen auseinandergesetzt. Er fordert eine Abkehr von Vorträgen und eine Hinwendung zum Tun. In seinem altMBA, einem dreissigtägigen Online Learning Workshop, ermuntert Seth Godin Berufstätige, sich neu zu erfinden.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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