Fieberthermometer eines Unternehmens
«Das mittlere Management ist überflüssig», lautet eine gängige Kritik in Zeiten von Holacracy und Co. Doch inwiefern ist diese gerechtfertigt? HR Today hat mit Experten und HR-Verantwortlichen gesprochen.
Mittleres Management: Wichtiger denn je oder überflüssig? (Bild: iStock)
Benötigt, befähigt, belächelt, degradiert, abgebaut: Die Position des mittlere Managements durchlebt stürmische Zeiten und wird von Holacracy-Verfechtern kontinuierlich infrage gestellt. Doch ist es deshalb überflüssig? «Das halte ich für eine unreflektierte Aussage», sagt Boris Billing, Leiter Personalentwicklung bei der Zürcher Kantonalbank: «Wie auch andere Organisationsformen funktioniert Holacracy in bestimmten Kontexten, ist aber kein Allheilmittel der modernen Organisationswelt.» Es hänge von den Absichten und Zielsetzungen eines Unternehmens ab, welche Rolle das mittlere Management innehabe. Ähnlich sieht es Antoinette Weibel, Professorin am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten an der Universität St. Gallen: «Streichen wir das mittlere Management, führt das zu grösseren Kontrollspannen und diese wiederum führen dazu, dass weniger Zeit für qualitative Führungsarbeit übrig bleibt.»
Führungsfunktionen gäbe es zudem nicht nur in traditionell geführten Grossunternehmen, sondern auch bei Organisationsformen wie Holacracy, sagt Weibel: «Sogenannte ‹Lead Links› sind letztlich nichts anderes als das mittlere Management.» Deren Aufgabe sei es, Brücken zwischen den verschiedenen Abteilungen und Ebenen zu bauen und Informationen zu transportieren. «Vielleicht sollten wir das mittlere Management künftig einfach umbenennen, um ihm einen besseren Ruf zu verschaffen», sagt Weibel.
Die Frage nach der Notwendigkeit des mittleren Managements hat sich auch Adi Bucher, Head of Human Resources bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank, gestellt. So hat er in den letzten Jahren miterlebt, wie die Funktion des mittleren Managements vor allem durch die Kommunikations- und Informationstechnologie unter Druck geraten ist. «Früher waren Middle Manager für die Kommunikation von oben nach unten und umgekehrt zuständig. Heute kann die oberste Etage problemlos mit der untersten transparent und direkt kommunizieren. Diese Aufgabe des mittleren Managements entfällt somit.»
Gras wachsen hören
Doch genügt das, um das mittlere Management infrage zu stellen? Nein, sind sich die Experten einig. Für Claudia Giorgetti, Leiterin Organisations- und Kulturentwicklung bei der Versicherungsgesellschaft Mobiliar, ist dieses nach wie vor ein wichtiges Bindeglied bei der Operationalisierung der Geschäftsstrategie. «Zudem gibt das mittlere Management Orientierung, lebt Haltung und hilft, das Vertrauen der Mitarbeitenden zu gewinnen.» Middle Manager messen die Temperatur eines Unternehmens, sagt Adi Bucher: «Sie sind die diejenigen, die am besten wissen, wie es den Mitarbeitenden geht.» Nicht umsonst ist für Antoinette Weibel das Zuhören eine der wichtigsten Aufgaben des mittleren Managements: «über alle Abteilungen hinweg». Das beinhaltet, herauszufinden, mit welchen Problemen sich die verschiedenen Stakeholder auseinandersetzen, wie man sie ansprechen muss, um die richtigen Informationen zu erhalten, und wie sie innerhalb der Organisation Silos zusammenführen können.
Doch was macht einen guten Middle Manager aus? Besonders geeignet für diese Position sind gemäss Claudia Giorgetti von der Mobiliar «Menschen, die flexibel, neugierig und bereit für Veränderungen sind und Mitarbeitende zu mehr Selbstverantwortung, Selbstführungskompetenz und Entrepreneurship anleiten». Für Boris Billing braucht es dagegen Macher, «die umsetzen, führungsstark sind und darüber hinaus strategische Diskussionen führen können». Wichtig sei auch die Fähigkeit, Netzwerke und Beziehungen herzustellen, sagt Adi Bucher und Antoinette Weibel ergänzt: Erforderlich seien zudem eine Portion Demut und die Bescheidenheit, sich selber nicht in den Vordergrund zu stellen, ebenso eine hohe Empathiefähigkeit sowie die Kunst, mit Emotionen umzugehen. «Das bedeutet, bei neuen Projekten Begeisterung wecken zu können, wie auch Mitgefühl zu zeigen, wenn Mitarbeitende schwierige Situationen erleben.»
Anreize schaffen
Bedingt durch die vielfältigen und hohen Anforderungen ist eine gewisse Fluktuation im mittleren Management gegeben, sind sich die Experten einig. «Um Middle Manager zu halten, müssen wir die richtige Balance von Aufgaben, Verantwortungen und Entscheidungskompetenz sowie Perspektiven bieten», sagt Claudia Giorgetti. Eine Aussage, der Boris Billing zustimmt. Das reiche jedoch nicht: «Wir müssen ihnen auch Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote bieten.» So habe die Zürcher Kantonalbank nebst virtuellen Lernwelten, in denen Mitarbeitende verschiedenen Lernangebote in Form von Texten, Videos und Podcast finden, auch Leadership-Programme und massgeschneiderte Workshops. Letztere seien für das mittlere Management besonders wichtig: «Meist kommen Führungskräfte und Teams direkt auf uns zu, um eine massgeschneiderte Unterstützung zur Führung und zur Zusammenarbeit zu erhalten.»
Trotz aller Anfeindungen behält das mittlere Management gemäss Adi Bucher vorderhand seine Berechtigung. «Wollten wir grundlegende Veränderungen in der Organisationsstruktur vorantreiben, müssten wir grundlegend über die Rollen in einem Unternehmen nachdenken.» Veränderungen sind für Bucher in der Arbeitswelt vor allem in klassischen Steuerungs- und Kontrollfunktionen feststellbar, wenn auch nicht so radikal. «Wir werden uns jedoch die Frage stellen müssen, welche Rollen, Hierarchien und Top-down-Steuerungen wir in Zukunft tatsächlich benötigen.» Eine ähnliche Haltung hat auch Boris Billing. «Künftig wird es eher flexiblere Organisationen geben, die andere Führungsvorstellungen haben.» Ebenso wie Bucher glaubt er jedoch nicht an eine Auflösung des mittleren Managements. Veränderungen zeichnen sich für Billing vor allem in der Führungskultur ab: «Das wird sich auf das mittlere Management auswirken.»