HR Today Nr. 11/2018: Bildungsmarkt

Für eine Berufswahl ohne Klischees

Das Portal mein-beruf.ch will die Berufswahlfreiheit von Mädchen mit Behinderungen fördern. Wir haben mit Angie Hagmann darüber gesprochen, weshalb es eine solche Plattform braucht.

Frau Hagmann, Jungen und Männer mit Behinderungen haben doch mit denselben Vorurteilen zu kämpfen wie Mädchen und Frauen. Könnte man das Portal nicht als Männerdiskriminierung auslegen?

Angie Hagmann: Dass beide Geschlechter auf Vorurteile treffen, trifft leider zu. Das hat damit zu tun, dass man die Betroffenen in erster Linie als «Behinderte» wahrnimmt. Man sieht einen Rollstuhl oder einen weissen Stock und nicht eine Frau oder einen Mann mit individuellen Interessen, Stärken und Schwächen. Dass wir die Bildungs- und Berufswege von Frauen mit Behinderung in den Mittelpunkt stellen, hat mehrere Gründe. Zum einen sind wir eine Frauenorganisation und kennen unsere eigenen Lebensbedingungen am besten. Zum anderen richten wir uns nach der UNO-Behindertenrechtskonvention, die alle Unterzeichnerstaaten dazu verpflichtet, Massnahmen gegen die mehrfache Diskriminierung von behinderten Frauen und Mädchen zu ergreifen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Folglich haben wir evaluiert, was es bereits gibt und wo Lücken bestehen. Das Portal ist das Ergebnis. Männer können übrigens davon genauso profitieren wie Frauen.

Wen sprechen Sie mit der Plattform an?

Neben den betroffenen Frauen alle Akteure, die im Berufsfindungsprozess Mitverantwortung tragen. Ganz zentral sind die Eltern. Zum Beispiel, indem sie nicht eigene Unsicherheiten in Sachen Behinderung oder bestimmte Rollenbilder weitergeben. Ebenfalls angesprochen sind Lehrpersonen der oberen Stufen, Berufs- und Studienberater, Gleichstellungsbeauftragte und nicht zuletzt Arbeitgeber und Personalfachleute. Wir möchten informieren und sensibilisieren und zeigen, dass in der Praxis oft mehr geht, als man denkt.

Mit welchen Klischees sind behinderte Mädchen oder Frauen vermehrt konfrontiert?

Zum einen, was mit dieser oder jener Behinderung möglich oder nicht möglich ist. Etwa, dass Rollstuhlfahrerinnen nur einen Büroberuf ausüben können oder alle Asperger-Betroffenen begabte Informatiker sind. Dazu kommen geschlechtsspezifische Stereotypen. Zum Beispiel, dass Frauen mit Behinderung in einem Männerberuf nicht bestehen können oder weniger auf einen guten Lohn angewiesen sind. Solche Bedenken wirken oft subtil und müssen jenen, die sich davon leiten lassen, nicht bewusst sein.

Sind Stellenangebote bei der Weiterentwicklung der Plattform geplant?

Wir möchten keine Separierung in Form von Jobs, die «speziell für Behinderte» geschaffen werden, Behinderungserfahrung ist ja kein Beruf!

mein-beruf.ch

mein-beruf.ch wird von Avanti Donne betrieben, der Interessensvertretung von Frauen und Mädchen mit einer Behinderung. Ziel der Initiative ist die Umsetzung des Artikels 6 der UNO-Behindertenrechtskonvention, der die Vertragsstaaten – also auch die Schweiz – dazu verpflichtet, Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe behinderter Frauen und Mädchen in allen Lebensbereichen zu ermöglichen und Massnahmen gegen ihre mehrfache Diskriminierung zu ergreifen. Der Verein Avanti Donne besteht seit 2002 und wird durch einen Leistungsauftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen sowie durch Spenden und Mitgliederbeiträge finanziert.

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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