Betriebliches Gesundheitsmanagement

Gesellschaft in Schieflage

Franz Schultheis ist Professor für Soziologie der Universität St. Gallen. Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehört die Soziologie der Arbeitswelt. Ein Gespräch über die Auswirkungen der modernen Arbeitswelt auf den heutigen Menschen.

Wie könnte man die heutige Arbeitswelt charakterisieren?

Franz Schultheis: Wer nicht aus dem Rennen geworfen werden will, muss innovativ und kreativ sein und sein Human Capital ständig optimieren. In der Arbeitswelt haben sich technologische Veränderungen in einer nie dagewesenen Weise beschleunigt. In den vergangenen dreissig Jahren haben sich die Anforderungsprofile stark verändert und der Leistungsdruck hat zugenommen. Heute gönnen wir uns kaum mehr eine Pause. Wir sind dauernd und überall zu erreichen. Eine Abgrenzung zwischen Privatleben und Arbeit hat sich zunehmend verflüchtigt. Oftmals ist die Arbeit auch das einzige Mittel, um Selbstwert zu erfahren oder Anerkennung zu finden. Droht diese wegzubrechen, stürzt das viele Menschen in eine existenzielle Verunsicherung. Die grosse Masse der Arbeitnehmenden ist schon aus finanziellen Gründen zur Mobilität gezwungen, um der Arbeit zu folgen. Das bedeutet längere Pendlerzeiten zum Arbeitsplatz, häufigere Umzüge oder gar den Wegzug aus dem Heimatland. Dieses Nomadentum zerbricht jedoch viele soziale Bindungen, die für das Individuum wie auch für die Volkswirtschaft von grosser Bedeutung sind. Zudem ist eine langfristige Lebensplanung in einem solchen Umfeld kaum mehr möglich. Die rückläufigen Geburtenraten sind in diesem Sinn auch als Anpassung an eine stets mobiler werdende Gesellschaft zu verstehen.

Was treibt unsere Gesellschaft in dieses Tempo hinein?

Es sind vor allem der Wettbewerb, die Globalisierung und die Produzenten, die zu Tiefstpreisen Waren herstellen. Auch die immer höher werdenden Renditeforderungen der Shareholder tragen dazu bei.

Weshalb machen wir einfach so weiter?

Diese Problematik ist in Fachkreisen von Ärzten, Psychologen und Versicherern hinlänglich bekannt. Die steigenden gesellschaftlichen «Reparaturkosten» zeigen, dass das Wirtschaftssystem aus dem Ruder gelaufen ist. Eine Richtungsänderung kann aber nur schrittweise erfolgen. Wenn nur ein Schaf plötzlich die Richtung wechselt, wird es von den anderen zu Boden getrampelt. Veränderungen müssen daher schrittweise erfolgen. Diese sind zudem nicht sofort sichtbar, sondern erst über längere Zeiträume hinweg und das erst im Rückblick. Deshalb entsteht im Moment der Eindruck, es ändere sich nichts.

Welche Veränderungen auf der gesellschaftlichen Ebene sind aus Ihrer Perspektive notwendig?

Gesellschaftlich gilt es, das europäische Modell der Sozialpartnerschaft wieder aufleben zu lassen, denn das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital ist gestört. Während in den vergangenen zwanzig Jahren die Kapitalerträge erheblich gestiegen sind, stagnierten oder sanken die Löhne der breiten Masse. Eine solche Ausgangslage droht vielerorts, das soziale Gefüge mittelfristig zu sprengen.

Wie kann sich ein Unternehmen diesen Mechanismen entziehen?

Unternehmen sind ja schon aus Kostengründen an nachhaltig engagierten Mitarbeitenden interessiert und nicht an solchen, die nach kurzer Zeit wie ein Strohfeuer ausbrennen. Die Betriebe werden bei steigenden Kosten von sich aus Massnahmen ergreifen, um die Gesundheit der Mitarbeitenden zu erhalten. Grundsätzlich müssen wir jedoch das längerfristige Denken wieder vermehrt in den Vordergrund stellen und nicht nur dem schnellen Geld und Erfolg nachjagen. In kleinen Schritten kann das konkret heissen, den Mail-Server mal über Nacht abzuschalten und damit ein Zeichen zu setzen, dass die Abgrenzung zwischen Geschäft und Privatem erwünscht ist und Mitarbeitende nicht omnipräsent sein müssen.

Und wie lautet Ihre Empfehlung für das Individuum? Wie soll sich der Einzelne verhalten?

Auf individueller Ebene gilt es sicherlich auch mal Zivilcourage zu zeigen, nicht alles mit sich machen zu lassen und sich mit anderen zu solidarisieren. Es kann auch lohnend sein, sich folgende Fragen zu stellen: «Wie arbeite ich eigentlich?», «Was macht das mit mir und mit meiner Familie?», «Will ich das?» – und dann konsequent zu handeln.

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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