HR Today Nr. 9/2019: Fehlerkultur

Hinfallen, um wieder aufzustehen – vom Tabuthema Scheitern

Mit Formaten wie weltweit stattfindenden «FuckUp Nights» oder der deutschen «HR Failure Night» wird die Fehlerkultur im Grossen zelebriert. Im Unternehmensalltag gelebt oder gar gefeiert wird sie hingegen noch viel zu wenig – der kulturelle Wandel muss erst vollzogen werden.

Kleinkinder können es hervorragend: hinfallen, aufstehen und wieder hinfallen. Sie sind geradezu Meister, wenn es ums Scheitern geht, und auch darin, aus diesem Missgeschick zu lernen. Was Kindern leicht fällt, wird umso schwieriger, je älter wir werden. Denn wir scheitern nicht gerne, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit und schon gar nicht im Berufsalltag. Scheitern ist für Verlierer. Wirklich? Gilt nicht vielmehr: «Wer noch nie einen Fehler gemacht hat, hat noch nie etwas Neues probiert», wie Albert Einstein es einst treffend auf den Punkt brachte?

Trotz der Erkenntnis, dass Fehler einen im Leben weiterbringen und man am Scheitern wächst, fehlt in vielen Unternehmen eine offene Diskussionskultur darüber. Aus Angst vor Sanktionen sprechen Mitarbeitende nicht auf allen Unternehmens-ebenen offen über Fehler, wie die Ernst&Young-Studie «Fehlerkultur in deutschen Unternehmen» zeigt. Insbesondere bemängeln Mitarbeitende die Diskussionskultur ihrer Vorgesetzten. Die Hauptgründe für das Vertuschen von Fehlern sind nach Einschätzung der von Ernst & Young befragten Mitarbeitenden die Angst, das Gesicht zu verlieren (36 Prozent) sowie die eines Jobverlusts (29 Prozent), während Führungskräfte vor allem Nachteile für die eigene Karriere (43 Prozent), den Jobverlust (36 Prozent) oder Gehaltseinbussen (29 Prozent) befürchten.

Innovation durch Scheitern

Keine Angst vor der öffentlichen Diskussion über Fehler haben die Teilnehmenden der sogenannten «FuckUp Nights». Eine Veranstaltung, bei der die «Gefallenen» die wahren Helden sind. 2012 von der Mexikanerin Leticia Gasca in Mexico-City ins Leben gerufen, hat das Format seit seiner Gründung weltweit Verbreitung gefunden. So wurden bislang in 318 Städten in 86 Ländern 1578 Fail-Geschichten erzählt, denen 189 090 Menschen gelauscht haben. Vorbild für das heutige Franchise-System ist übrigens eine Veranstaltung, die schon seit 2009 existiert: Die «FailCon», die erstmals im Silicon Valley durchgeführt wurde. Kein Wunder, denn im Vergleich zur restlichen Geschäftswelt gilt im Epizentrum der Start-up-Kultur das Scheitern seit jeher als cool: Nur wer hinfällt und wieder aufsteht, trägt den wahren Unternehmergeist in sich.

Wer also auf der Bühne der «FuckUp Nights» auftreten möchte, muss im Leben einmal so richtig auf die Nase gefallen sein («to fuck up»). Je krasser, verrückter oder bewegender die Geschichte des Scheiterns ist, desto lauter der Applaus des Publikums für die gefallenen Unternehmerinnen und Unternehmer. Für diese wiederum ist der Auftritt eine Art Katharsis, bei der sich die Möglichkeit bietet, ihre Erfahrungen zu teilen und anderen Mut zu machen, aus Fehlern zu lernen. Denn Scheitern ist Teil des Lebens und damit auch Teil des Unternehmensalltags.

Akzeptanz des Scheiterns

Um diese Angst abzubauen und die Fehlerkultur zu stärken, hat der ETH Entrepreneur Club die «FuckUp Nights» nach Zürich geholt. «In einem Land wie der Schweiz, wo der Erfolg vor allem an finanziellen Mitteln gemessen wird, besteht der Bedarf, die Failure-Kultur zu verbessern», erläutert Mitorganisator Manuel Studer: «Ausserdem wollen wir Arbeitnehmenden Mut machen, unternehmerisch zu sein und keine Angst vor dem Versagen zu haben. Das Scheitern gehört schlicht zum Weg des Erfolgs.» Mit der «FuckUp Night» sollen die Zuhörer deshalb eine andere Perspektive zum Fehlermachen erhalten. «Viele heute erfolgreiche Menschen sind in der Vergangenheit gescheitert.»

Ob in Zürich, Basel, Genf, Lugano oder Winterthur, das «FuckUp»-Format kommt gut an. Und auch an diesem Abend am 16. Mai 2019 im Theater 11 in Zürich ist die Durchführung ein voller Erfolg. Die Stimmung der rund 1500 Gäste sowie des moderierenden StandUp-Comedian ist gelöst, so auch die der anwesenden Unternehmerinnen und Unternehmer, die über ihre Niederlagen und Misserfolge und die daraus entstandenen unerwarteten Wendungen im Leben erzählen. Das Publikum hört aufmerksam zu, amüsiert sich und lernt von den referierenden Protagonisten.

Referenten des Scheiterns

Die «FuckUp Night» in Zürich hat nicht nur punkto Publikum einen guten Zulauf, sondern auch in Sachen Speaker. «Wir halten Ausschau nach Menschen, die mit einem Projekt gescheitert und heute erfolgreich sind. Menschen also, die durch das Scheitern gelernt haben und dieses Wissen nun an andere Leute weitergeben möchten.» Interessante Speaker versuche das Team meist per E-Mail vom Event zu überzeugen. «Wenn wir aber durch einen persönlichen Kontakt an die Person herankommen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie mitmacht.»

Am heutigen Abend steht Cristian Grossmann, CEO von Beekeeper und Anbieter einer der führenden mobilen Mitarbeitenden-Plattformen zur Digitalisierung der internen und operativen Kommunikation, auf der Bühne. Sein Vorhaben war nicht immer von Erfolg gekrönt. «Als ETH-Studenten lancierten wir vor Beekeeper eine Dating-App namens Blicklick. Wir fanden sie genial, aber das Publikum offenbar nicht.» Was er daraus gelernt hat? «Wenn man im Leben scheitert, beginnt man sich und den Grund des Scheiterns zu hinterfragen. Dieses Sich-selbst-Hinterfragen haben wir anfänglich verpasst. Also motiviere ich unsere Mitarbeitenden nun täglich dazu, ihr Tun zu hinterfragen, Fehler einzugestehen, Richtungswechsel zu wagen und mit neuem Elan durchzustarten.»

Grossmann legt als Unternehmer grossen Wert auf eine offene Fehlerkultur: «Wir haben diese fest in unserer Unternehmenskultur verankert, deshalb entwickeln sich unsere Mitarbeitenden zu mutigen, kreativen, selbstbewussten und toleranten Menschen, die dank regem Austausch – auch von Fehlern – über ihre Grenzen hinausgehen.» Im Beekeeper-Büro gäbe es eine Wand, auf der Fehler öffentlich zelebriert würden. Diese hätte schon so manchen zum Schmunzeln gebracht. «Als CEO gehe ich zudem mit gutem Beispiel voran und erzähle offen und ehrlich, wann ich Mist gebaut habe. Aber auch, was daraus entstanden ist.»

Nebst Christian Grossmann und Jean-Claude Biver plaudern Frauen aus dem Nähkästchen. Unter anderem Marianne Janik, CEO von Microsoft Switzerland. Ihre Erkenntnis: Scheitern heisst nicht Versagen, sondern ist vielmehr eine Chance, etwas Neues zu beginnen. «Das hat mich fünf Jahre meines Lebens gekostet. Deshalb mein Rat: Scheitere lieber rasch statt nie!» Auch Edith Schmid, CEO der Kenzen AG, musste schmerzlich erfahren, was das heisst. Mit Kenzen AG hatte sie ein Start-up aufgebaut, dessen Produkt zwischenzeitlich in die USA verlagert wurde, während die Schweiz (Kenzen AG) sich in der Liquidation befindet. «Die Gründe waren nicht ein falsches Produkt oder unmotivierte Leute, sondern vielmehr die fehlende Verbindung zu Investoren in den USA», erzählt -Schmid. Gelernt habe sie aus diesem «Fuck-up», dass Investoren auch ins Team gehören und dass ein Projekt keine Zukunft hat, wenn das Team und der Investor unterschiedliche Ziele verfolgen.

Auch HR kann scheitern

Ähnliche «Fuck-up»-Initiativen existieren mit der «HR Failure Night» seit 2016 auch in Deutschland. Der Auslöser zur Gründung? Gemäss Mitinitiator Dominik A. Hahn eine klassische «Best-Practice-Veranstaltung», die er gemeinsam mit seiner Partnerin Nicole Goodfellow besucht hat. «An diesem Anlass teilten die Referenten ihre genialen Ideen und Projekte mit den Anwesenden. Das Problem: Vieles, was in diesen Unternehmen funktioniert, lässt sich so aber nicht auf das eigene Unternehmen übertragen. Wir empfanden das für den eigenen Arbeitsalltag als wenig nützlich», erinnert sich Hahn. Deshalb seien er und Nicole Goodfellow auf die Idee der «Failed Cases» gekommen. Im September 2016 fand dann in München die 1. HR Failure Night statt. «Auch HR-Leute machen Fehler. Das dürfen und sollen HR-Fachleute auch tun. Nur so kommen sie weiter. Unternehmen brauchen eine starke HR-Funktion, um die Herausforderungen der aktuellen Zeit zu bewältigen», konstatiert Hahn. Eine etablierte «Noble Failure Culture» könne da nicht schaden.

Die «HR Failure Night» unterscheidet sich von einer klassischen «FuckUp Night» in zwei wesentlichen Punkten: «Zum einen tragen unsere Speaker, die wir HR Failure Knights nennen, ihre Geschichten nicht auf offener Bühne vor», erklärt Hahn. Das Publikum werde in vier Gruppen à maximal 20 Personen aufgeteilt, um eine familiäre Atmosphäre zu schaffen, die das «Fehlerteilen» erleichtere. Das bedeute, dass alle Speaker ihren Fall viermal vortragen und meist unterschiedliche Reaktionen erfahren. «Zum anderen gelten bei uns drei Regeln: kein Twitter, kein Live-Streaming und das Vegas-Prinzip. So schaffen wir einen schützenden Raum, in dem Vertrauen das oberste Gebot ist.» So verlasse kein «Fail» die Veranstaltung und es könne auf keine Personen oder Unternehmen rückgeschlossen werden.

Rund 80 Personen nehmen an der «HR Failure Night» teil. «Wir haben diese Limite gesetzt, weil die Veranstaltung bei einer grösseren Teilnehmerzahl ins Anonyme abdriften würde. Das wollten wir vermeiden.» Derzeit planen die beiden Gründer bereits die nächste Ausgabe der «HR Failure Night», sagt Hahn. «Aktuell kommen uns aber profane Dinge wie Hausbau, Kinder und viel Arbeit in unseren Jobs dazwischen. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir bald mit der siebten Durchführung starten können.»

Nicht fürs Public Viewing geeignet

Die einen sind begeistert, die anderen stimmt das öffentliche Fehlerfeiern nachdenklich: «Nicht wegen des Anliegens, aber wegen des Formats», sagt Professor Theo Wehner, Experte an der ETH Zürich im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie. «Scheitern eignet sich nicht zum Public Viewing. Auch wenn in Social Media ein virtueller Pranger existiert, haben wir den mittelalterlichen Scheiterhaufen doch zum Erlöschen gebracht.» Besser wäre eine gesteigerte Fähigkeit zur Selbstreflexion und zwar nicht nur nach einem Scheitern, sondern auch, wenn etwas besonders gut gelungen sei. «Man kann auch aus Erfolgserlebnissen lernen.»

Leitfaden für ein internes «FuckUp»-Meeting

Planen Sie ein «FuckUp»-Meeting an einem aussergewöhnlichen Ort und nicht in einem Sitzungszimmer. Laden Sie die Mitarbeitenden dorthin ein, und reden Sie mit ihnen über Misserfolge, Fehler und das Scheitern. Für den Prozess förderlich ist, wenn Sie als Führungskraft den Auftakt machen und so symbolisieren, dass es in Ordnung ist, auch einmal etwas falsch zu machen. Laden Sie danach Ihr Team ein, aktiv an der Sitzung teilzunehmen und über ihre Misserfolge zu erzählen. Beantworten Sie die folgenden drei Fragen:

  • Was ist passiert?
  • Wie bin ich damit umgegangen?
  • Was würde ich heute anders machen?

Feiern Sie die Fehler mit einer Runde Applaus, oder stossen Sie sogar darauf an.

DOS

  • Ermutigen Sie die älteste Führungskraft im Raum, die Runde mit dem Erzählen eines persönlichen «FuckUps» zu eröffnen.
  • Stellen Sie sicher, dass Sie eine sichere Umgebung schaffen. Wenn irgendwelche Sanktionen verhängt werden, wird das Vertrauen sofort verschwinden und ein weiteres Treffen obsolet.
  • Stellen Sie einen Preis in Aussicht für den besten Misserfolg oder die beste gescheiterte Idee.

DON’TS

  • Schuldzuweisungen oder Schamgefühl.
  • Erwarten Sie nicht, dass jeder von Anfang an seine grössten Fehler teilen will. Normalerweise fällt es Menschen schwer, sich vor Publikum zu öffnen.

Quelle: Corporate Rebels

Buchtipp

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Psychologie des Unternehmertums, Kapitel 8: Das Dinosaurierprinzip

«Fehler fristen immer noch ein trauriges Schattendasein in unserem Kulturkreis. Jeder macht sie, aber kaum einer spricht darüber», weiss Andreia R. S. Fernandes, Autorin sowie Gründerin der Seabrand International GmbH. Im 8. Kapitel «Das Dinosaurierprinzip – Gescheitert oder gescheiter? Gezieltes Risiko als Notwendigkeit zum Erfolg» im Buch «Psychologie des Unternehmertums» setzt sie sich mit Hilfe des Dinosaurierprinzips mit dem Scheitern auseinander.

C. Negri (Hrsg.), Psychologie des Unternehmertums: Von der Gründung bis zur Nachfolgeregelung (Der Mensch im Unternehmen: Impulse für Fach- und Führungskräfte), Springer-Verlag, 2018, 115 Seiten.

 

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Christine Bachmann 1

Christine Bachmann ist Chefredaktorin von Miss Moneypenny. cb@missmoneypenny.ch

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