Ist Bindung durch Weiterbildung ein Auslaufmodell?
Mitarbeitenden an die Unternehmung zu binden, war schon immer ein grossgeschriebenes Ziel. Das ist heute nicht anders: aufgrund des Fachkräftemangels ist es wichtiger denn je, Mitarbeitenden eine Perspektive zu geben. Die Art und Weise der «Weiterbildung» hat sich jedoch stark verändert.
Weiterbildung ist durchaus noch ein Anreiz, solange die Rahmenbedingungen stimmen. (Bild: iStock)
Früher: Mit Verträgen Mitarbeitende binden
Lange Zeit war es eine bewährte Massnahme, Mitarbeitenden kostspielige Weiterbildungsangebote zu finanzieren. Das, um ihre Talente zu entwickeln, aber auch, weil man sich so in Sicherheit wog, Mitarbeitende während der Amortisierungszeit nicht zu verlieren. Darauf ist heute jedoch kein Verlass mehr: Immer häufiger sind Arbeitgeber bereit, den noch offenen Betrag einer Weiterbildungsvereinbarung bei einer Neuanstellung zu übernehmen. Sollten Unternehmen deshalb weniger in die Weiterbildung der Mitarbeitenden investieren? Natürlich nicht! Mitarbeitende zu entwickeln ist wichtiger denn je, denn die Dynamik hat im Arbeitsmarkt an Fahrt aufgenommen. Oder mit den Worten, die auf skills.ch nachzulesen sind: «Skills bilden den Schlüssel zur Arbeit 4.0».
Heute: das 70-20-10 Modell
Bevor Bildungsverantwortliche neue Konzepte zur Entwicklung der Mitarbeitenden erarbeiten, müssen sie sich vergegenwärtigen, wie diese heute lernen. Dabei hilft es, sich das 70-20-10 Modell vor Augen zu halten. Demnach entwickeln wir unsere Fähigkeiten im modernen Arbeitsumfeld zu 70 Prozent durch herausfordernde Arbeiten im Alltag, zu 20 Prozent durch den informalen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen und zu 10 Prozent durch formale Trainings. Weiterbildung findet also auf verschiedenen Ebenen statt und jede Ebene kann Mitarbeitende inspirieren und motivieren. Dieser Denkansatz muss aber auch die Vorgesetzten erreichen. Sie sind gefordert, in Mitarbeitende in ihrer Führungstätigkeit noch stärker in der Transformation zu begleiten, sie ermächtigen und schliesslich Aufgaben an sie zu delegieren. Und ausSicht der Unternehmung müssen sich Bildungsverantwortliche fragen, wie sie das Weiterbildungsbudget richtig einsetzen. Alles auf die Karte «formales Training» zu setzen, ist zu kurz gegriffen.
Ein Entwicklungsmodell gibt Perspektive
Auch wenn sich die Generation Z – zumindest in der Theorie – nicht durch Job und Karriere definiert, können sich Unternehmen nicht der Frage entziehen, welche Karrierepfade sie den Mitarbeitenden zur Verfügung stellen. Eine Kernbotschaft zur Weiterbildung könnte mit folgenden Worten zusammengefasst werden: «Hey, du musst nicht unser Unternehmen verlassen, damit du den nächsten Schritt machen kannst!». Gleichzeitig darf man davon ausgehen, dass Menschen – auch die, die vor 1996 geboren wurden – «ja» zu mehr Sinnhaftigkeit, zu mehr Gestaltungsfreiraum und zu einem besseren Gehalt sagen, aber «nein» zu mehr Stress und Belastung. Entwicklungsmodelle sollte deshalb alle Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung berücksichtigen und nicht als eindimensionales Karrieremodell positioniert werden. In einem solchen Modell hat eine Fachkarriere denselben Stellenwert wie eine Führungskarriere. Vor allem aber sollte ein Entwicklungsmodell Transparenz schaffen und allen Mitarbeitenden dieselben Chancen einräumen.
Die Bausteine eines Entwicklungsmodells
Damit ein Entwicklungsmodell der heutigen Dynamik und den immer weiter verbreiteten agilen Zusammenarbeitsformen Rechnung trägt, darf nicht jeder Veränderungsschritt zu einer Anpassung im Arbeitsvertrag führen. Dies erreicht man, indem das Modell auf folgende Kernelemente aufbaut:
- Der Job beschreibt die Stelle mit vertragsrelevanten Inhalten. Die Verantwortung hierfür liegt in der Regel bei HR.
- Die Rolle ist einem Job zugeordnet. Mitarbeitende können eine oder mehrere Rollen wahrnehmen. Die Pflege der Rollenbeschreibung erfolgt durch die Linie.
- Die Rolle wird im Detail durch die Skills beschrieben, welche für die Erledigung der jeweiligen Aufgaben erforderlich sind.
Ein solches Entwicklungsmodell generiert in vielerlei Hinsicht Nutzen. Zum Beispiel, weil es als Basis für Rekrutierungsprozesse dient und Lohngerechtigkeit herstellt. Nicht zuletzt aber auch, weil mit der Königsdisziplin «Strategic Workforce Planning», eine langfristige Perspektive eingenommen und der Fokus auf künftig notwendige und wegweisende Kompetenzen gelegt wird. Aber: «Ein Schritt nach dem anderen». Firmen dürfen das Ziel, den Mitarbeitenden eine Perspektive zu geben, nicht aus den Augen verlieren.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen
Dass ein Entwicklungsmodell nur einen Nutzen generiert, wenn es in der Unternehmung praktiziert wird, dürfte als Trivialität abgetan werden. Leider ist es oft nicht einfach, die dazu notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Es braucht eine Kultur, welche die interne Mobilität unterstützt. Streben Mitarbeitenden den Schritt in eine andere Führungshierarchie an, darf es nicht zu unangenehmen Nebengeräuschen kommen. Ausserdem geht es nicht ohne die Bereitschaft, Mitarbeitenden die notwendige Zeit zu geben, damit sie in einer neuen Aufgabe reüssieren. Vorsicht ist geboten, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Dann könnte der gut gemeinte Vorsatz plötzlich zynisch wirken und negative Reaktionen auslösen.
Die Menschen erreichen
Ein Entwicklungsmodell, wie das hier angedachte, entsteht in enger Zusammenarbeit zwischen HR und den Linienvorgesetzten. Einmal entwickelt, stellt sich die Frage, wie relevante Informationen an Mitarbeitende herangetragen werden. Hierzu gibt es nichts Neues zu berichten. Nach wie vor ist der Dialog zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden der wichtigste Baustein in der Kommunikationsstrategie. Dieses Gespräch sollte möglichst losgelöst von einer vergangenheitsorientierten Leistungsbeurteilung stattfinden.
Darüber hinaus sind Softwareprodukte im Sinne eines digitalen Karriereberaters dienlich. Diese zeigen aufgrund von Marktdaten, wohin die persönliche Entwicklung eines Mitarbeitenden gehen kann. Zudem setzen sie auf den Daten des Entwicklungsmodells auf und belegen, welche Skills einem Mitarbeitenden noch fehlen, um die eine oder andere Job-Opportunität wahrzunehmen.
Die «Workforce Readiness» im Visier
Es geht ja immer um das Gleiche: wir wollen auch in Zukunft in der Lage sein, zu leisten. Dafür gibt es die Hebel «Attract», «Develop» und «Retain». In vielen Unternehmen ist die Option «Attract» jedoch ziemlich ausgeschöpft und die Arbeitgebermarke bereits auf Vordermann gebracht. Dann führt kein Weg daran vorbei, den Fokus auf die Menschen im Unternehmen zu richten und ihnen die in diesem Beitrag ausgeführte Perspektiven zu geben. Dies erzeugt nicht nur Wirkung nach innen, sondern geht auch mit einer Strahlkraft nach aussen einher. Das Entwickeln der Mitarbeitenden ist also nichts Geringeres als die zentrale Massnahme, um im Wettbewerb zu bestehen und über die richtigen Skills zu verfügen. Das zeigt auch die KMU-Umfrage der Credit Suisse aus dem Jahr 2022 (siehe Abbildung).