HR Today Nr. 5/2022: Im Gespräch

Mensch-Maschine?

Zum Missfallen des Zukunftsforschers Martin Wezowski wird der technologische Fortschritt in den Medien häufig als Dystopie dargestellt. Wie düster oder hell sich unsere Arbeitswelt entwickelt, ist jedoch einzig und allein von uns abhängig. Ein zukunftsfroher Ausblick.

Menschen sind ziemlich schlecht darin, Vorhersagen zu treffen. Was sind für Sie die wichtigsten Denkfallen?

Martin Wezowski: Wir haben ein natürliches Unvermögen, exponentiell zu denken. Ein Beispiel: Bringen uns 30 Schritte à einen Meter 30 Meter weit, können wir mit 30 sich jeweils verdoppelnden Schritten dagegen 26-mal die Erde umrunden oder zum Mond gehen. Das ist die wahre Geschwindigkeit der Veränderung. Die Falle besteht darin, ­Menschen zu fördern, die linear denken und tatsächlich glauben, dass ihre Projekte oder ihre Technologien der Entwicklung «30 Meter voraus» sind. Nokia, Blockbuster und Blackberry sind einige dieser Unternehmen, die diesem Irrtum unterlagen. Das gefährlichste Phänomen unserer Zeit ist jedoch das kurzfristige Denken. Lenken wir uns von Langzeitentwicklungen ab und fokussieren uns nur auf das, was gerade unsere Aufmerksamkeit erregt, oder auf das Dringliche, aber nicht das langfristig Wichtige, verlieren wir einen Teil unserer menschlichen Erfindungskraft, uns etwas vorzustellen und es auszuformulieren. Mit anderen Worten: die Zukunft zu sehen und zu fühlen. Das ist aber, was uns menschlich macht. Verschiedene Zukünfte im Geiste eines Abenteurers zu erkennen, ist eine Wanderung ins Unbekannte. Wir müssen einen Schritt machen, um die aus dem Nebel auftauchenden Trittsteine zu erkennen.

Wie sollten wir mit dem Unbekannten umgehen?

Zukünfte sind gestaltbar. Wir sind die Gestalter. Um uns in Richtung einer Vision zu bewegen, die fünf Jahre in der Zukunft liegt, reicht es, mit einer Strategie die drei wichtigsten Massnahmen der nächsten sechs Monate zu definieren. Das mag wie ein vierteljährlicher Visions-Workshop im Büro klingen, es hilft uns aber, unsere Zukunft zu realisieren. Eine Vision mit Leidenschaft zum Leben zu erwecken, ist zudem mit Sinnhaftigkeit gleichzusetzen.

Häufig werden wir aber dafür belohnt, einfach unsere Arbeit zu machen...

Der Philosoph Arthur Schopenhauer meinte dazu: «Talent ist ein Ziel, das niemand erreichen kann.» Der Gedanke dahinter ist, dass jemand einen bestehenden Job meisterhaft ausführt. Das ist grossartig, bedeutet aber, dass wir nur etwas «richtig» ausführen, wofür wir belohnt werden. Das System belohnt die Ausführung, nicht die Vorstellungskraft. Deshalb entwickeln sich Unternehmen effizient in eine Richtung. Was aber, wenn diese falsch ist? Schopenhauer sagte auch: «Das Genie trifft ein Ziel, das niemand sehen kann.» Doch wie bereitet man Menschen darauf vor, die Zukunft zu sehen? Diese zu artikulieren, ist der Dreh- und Angelpunkt einer erfolgreichen Geschäftstätigkeit. Etwas, das wünschenswert, wichtig, schwer erreichbar oder für den Moment unmöglich, aber inspirierend ist.

Wie kommt man zu solchen «Zukunftsversionen»?

Ich habe meinen Nachrichtenkonsum im letzten Jahrzehnt auf ein Minimum reduziert. Dagegen halte ich mich über die Entwicklungen in Wissenschaft, Technik, Geisteswissenschaften, Kunst, Wirtschaft und Politik mit Sachpublikationen mit direktem Quellenbezug auf dem Laufenden. Alles andere ist die Meinung eines anderen. Das gilt für Werbung ebenso für Social Media. Diese sollte man aus seinen Informationsströmen streichen und sich stattdessen mit relevanten Themen beschäftigen. Dadurch werden wir optimistischer sowie informierter und fördern eine Wachstumsmentalität statt die Angst vor der Zukunft.

Welche digitalen Entwicklungen entgehen uns, weil sie uns Angst machen?

Es sind weniger die digitalen Blindspots als die politischen Gremien und Geschäftsleitungen, in denen das Verständnis für Fakten, Wissenschaft, Design, Philosophie und den Umgang mit Daten völlig fehlt. Das ist eine grosse Bedrohung für unsere Gesellschaft. Politiker und Business Leader sind in diesen Belangen häufig völlig inkompetent. Sie haben keine geeigneten Tools, Methoden und Mindsets, um uns in die Zukunft zu führen.

Mensch-Maschine oder Maschine-Mensch: Wird Technologie uns dereinst komplett kontrollieren?

Wir müssen uns zunächst fragen, weshalb die freie Presse sich diesem Thema so häufig aus der Angst- und Status-quo-Perspektive annimmt. Ich könnte stattdessen eine stimulierende, zauberhafte, inspirierende und neugierig machende Geschichte voller Freude, Optimismus und Humanismus zur Mensch-Maschine-Beziehung verbreiten. Eine über unser wachsendes Bewusstsein über die Welt, in der wir leben, und über unser Streben, ein besseres Leben für alle Menschen auf der Erde zu erschaffen. Wenn wir aber schon mit der Frage annehmen, dass die Technik uns komplett kontrollieren wird, wie soll dann eine wünschenswerte Zukunft mit sozialem sowie politischem Fortschritt entstehen? Was, wenn wir die Fragen anders stellen? Welche Auswirkung hätte das auf unsere Weltsicht oder sogar auf Innovationen?

Sollten wir uns technisch erweitern?

Heute müssen wir einen Informations-Tsunami bewältigen, weil wir Daten aufgrund ihrer Komplexität oder Unstrukturiertheit nicht verstehen oder anwenden können. Die Technik wird den menschlichen Einfallsreichtum erhöhen, statt Entscheidungsträger mit Informationen zu überwältigen. Menschen brauchen nicht noch mehr Daten: Sie brauchen Kontexte und personalisierte Informationen, Prozesse und Routine, die ihnen das liefern, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt brauchen. SAPs Langzeitvision? Menschlicher Einfallsreichtum und AI in einer empathischen Symbiose. Das ist ein natürlicher Prozess vom Feuer zum Rad, zur Lesebrille bis hin zur personalisierten Krebsbehandlung.

Das heisst, überflüssige Aufgaben verschwinden?

Ich hoffe, wir werden altbekannte, detaillierte, repetitive, banale und langweilige Aufgaben automatisieren. Grosse Datenbanken, grosse Zeitspannen, häufige Wiederholungen deuten auf Automatisierungspotenzial.

Was tun wir mit der neugewonnen Freiheit?

Wir überlassen wenig wertvolle Aufgaben den Maschinen und nutzen den Freiraum für Gespräche, Interaktionen, kreative Forschung, Erfahrungsaustausch, komplexe Problemlösungen und Langzeitplanung. Manchmal witzle ich, dass wir endlich menschlich werden. Bisher waren wir zu sehr damit beschäftigt, in unseren Excel-Spreadsheets Zahlen zu sammeln und zu jagen. So sehr, dass wir vergassen, was es heisst, Mensch zu sein. Wir werden mehr Zeit haben, uns unserer selbst bewusst zu werden und der Welt, die wir erschaffen wollen.

Sie sprachen von Hörimplantaten, mit denen andere verstehen, was man denkt. Solche Gedankenpolizisten-Szenarios sind sehr erschreckend...

Nur wenn wir sie dazu machen. Mitgefühl, aktives Zuhören und Empathie sind nicht weit weg von der künftigen Kommunikation, inklusive technologisch unterstützter wie Telepathie. Es sind menschliche und planetarische Zukünfte, die wir in die Designs einbringen müssen. Damit tun wir, was unser Zugehörigkeitsgefühl stärkt, statt es zu bedrohen.

Inwieweit ist das ein Traum reicher Menschen?

Was immer für ein paar Auserwählte reserviert war, wurde später auf die eine oder andere Weise verteilt. Die Zukunft ist eine globale ­Ressource. Sie ist erneuerbar und steht allen offen. Wir müssen sie nur richtig verteilen. Unsere politischen, sozialen und akademischen ­Systeme halten mit der Technologie aber nicht Schritt. Deshalb entstehen immer mehr anarchische Systeme wie Open Source, Web 3 oder NFT. Die nächste Marie Curie wird Quantum Mechanics auf einem smarten Gerät lernen, das weniger kostet als ein T-Shirt, von der globalen Ökonomie in virtuellen und reellen Welten profitieren und voraussichtlich nicht in München oder einer anderen wohlstands­gesättigten und stagnierenden Stadt geboren werden, sondern in Nigeria oder Bangladesch.

Müssen wir unsere Gesellschaft angesichts dieses technologischen Fortschritts neu denken?

Absolut. Wenn die heute an der Macht befindlichen Leader und Organisationen die autonome und erweiterte Welt nicht annehmen, werden sie aussen vorgelassen. Das betrifft alle Institutionen – von der örtlichen Krankenkasse über den souveränen Nationalstaat bis hin zur Universität. In Japan hat die Regierung hierzu kürzlich das Konzept Society 5.0 vorgestellt. Ich empfehle jedem, das zu lesen, wenn er verstehen will, wie technologische Innovationen dazu beitragen, Herausforderungen wie Arbeitslosigkeit, Armut oder Luftverschmutzung zu meistern.

Sie sagten, Arbeit werde Menschen künftig mehr entsprechen. Was heisst das?

Alle wurden kreativ geboren. Wir töten diese Fähigkeit aber in den Schulen ab. Das wird nun enden. Wir werden viel mehr Zeit mit Aktivitäten verbringen, die der menschlichen Natur entsprechen, und dafür angeborene Skills wie Neugier, Innovation, Kreativität, Diskussionen, Forschung und Experimente einsetzen. Menschen könnten so viel mehr tun, wenn sie die nötige technische Unterstützung und Autonomie dazu hätten.

Welche positive Geschichte würden Sie über die neue Arbeitswelt erzählen?

Menschen tätigen Geschäfte, das tun Transaktionen oder Prozesse oder irgendein anderes digitales Asset nicht. Business ist ein menschliches Abenteuer.

Und welche negativen?

Wir gelangten auf den Mond, weil wir positiv dachten, nicht negativ.

Was ist realistischer: dystopische oder positive Szenarien?

Zwischen Dystopie und Utopie liegt ein Ort, den ich «Do-Topia» nenne. Das ist der Ort, an dem wir jene Zukünfte entwickeln, in denen wir leben wollen.

Zur Person

Martin Wezowski arbeitet als Chief Futurist und Head of Future Hub für SAP Technology & Innovation. Er lehrt als Fakultätsmitglied von Futur/io, einem europäischen Zukunftsinstitut, und anderen Bildungsprogrammen. Im Moment ist er auf der Mission, eine Zukunft abzubilden, in der wir leben wollen. Dazu entwickelt er Zukunftsperspektiven, um herauszufinden, was als Nächstes und darüber hinaus für das umfangreiche Ökosystem von SAP und die Zukunft der Arbeit ansteht. 2017 wurde er als «Software-Visionär» («Handelsblatt») zu einem der 100 innovativsten Köpfe in Deutschland gewählt.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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