Sommerserie 2018

«Mit Leben beginnen, bevor man tot ist»

Viele Schritte in seiner Entwicklung habe der Mensch nur gemacht, weil er innegehalten hat, sagt Autorin und Regisseurin Livia Anne Richard. Wie sie selbst entschleunigt und warum sie das Wort Work-Life-Balance aus dem Vokabular streichen würde.

Frau Richard, wie genau definieren Sie Entschleunigung?

Livia Anne Richard: Entschleunigung ist für mich das Glücksgefühl der Selbstbesinnung. Wenn ich ganz im Moment und ganz bei mir bin. Nicht daran denke, was ich heute, morgen oder übermorgen noch alles erledigen muss oder gestern hätte erledigen sollen.

Warum ist Entschleunigung wichtig für unsere Ausgeglichenheit?

Weil die Sehnsucht nach Kontemplation urmenschlich ist. Wir sind ja nicht als Arbeitstiere zur Welt gekommen. Wenn man einem kleinen Kind zuschaut, wie es selbstvergessen vor sich hin summend mit einem Ast in einem Bach stochert, dann steht die Zeit still. Der Mensch hat in seiner Entwicklung viele Schritte gemacht, weil er innegehalten hat. Ich glaube kaum, dass je eine grosse Erfindung im Zustand von Stress entstanden ist.

Seit wann ist Entschleunigung ein Thema? Nur ein Trend, der wieder vorübergeht?

Ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Trend handelt. Burnout ist ja leider auch kein Trend, sondern beschäftigt uns nun schon seit Jahren. Das Thema Entschleunigung ist unter anderem auch eine Reaktion auf die zunehmenden Fälle von Burnout. Firmen haben begriffen, dass es besser ist, ihren Mitarbeitenden präventive Massnahmen gegen Stress zu bieten, anstatt sie dann durch ein Burnout begleiten zu müssen.

Entschleunigung hat also auch positive Effekte für den Arbeitgeber?

Logisch. Alles, was ich gebe, kommt auf mich zurück. Das sind Naturgesetze. Je freier Arbeitgeber die Präsenzzeiten im Betrieb gestalten, je besser kann der einzelne Mensch auf sich selber und seine Bedürfnisse eingehen. Es ist aber wichtig, dass in den Firmen eine Kultur herrscht, die dies auch wirklich zulässt. Ich kenne Beispiele namhafter Firmen, wo der Stress und die Fälle von Burnout gar zugenommen haben, vom Moment an, wo die Arbeitszeit frei gestaltet werden konnte. Weil unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein gegenseitiges Kontrollsystem aufkam. Und trotz der Freiheit traute sich niemand, vor dem Chef nach Hause zu gehen. Es ist also wichtig, dass die Chef-Etage Tacheles spricht und den Mitarbeitenden hochoffiziell sagt: Es ist erwünscht, dass Ihr Euch eigene Freiheiten nehmt! Sonst bleibt alles eine Farce auf Papier.

Welche positiven Auswirkungen hat Entschleunigung auf unsere Leistungsbereitschaft?

Ich glaube: Eine absolut eminente Auswirkung. Ein Mitarbeitender, der acht Stunden arbeitet, ist doch nicht acht Stunden lang effizient – egal ob er nun viel zu tun hat oder wenig! Meine Mitarbeitenden führe ich resultatbezogen. Das heisst, sie gestalten sich ihre Tage und Wochen frei. Im Vordergrund steht dabei das Endresultat und nicht der Weg dorthin oder die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden. Erfahrungsgemäss ergibt sich daraus eine intrinsische Motivation, ich muss sie nicht von aussen antreiben. Natürlich geht dies nur mit Charakteren, die dann nicht den Reflex haben, die Situation auszunutzen.

Wie viel zusätzlicher Zeitaufwand braucht Entschleunigung?

Das kann man so nicht beziffern. So wie jeder Mensch unterschiedlich viele Atemzüge pro Tag braucht, ist es auch individuell, wie oft und wie lange er die Entschleunigung braucht.

Wie sorgen Sie persönlich für Ihre Entschleunigung?

Ich treibe Sport und gehe in die Sauna. Aber am allerliebsten entschleunige ich auf meiner Harley. Wenn ich auf meiner Fat Boy durch die Gegend fahre, interessiert mich nur noch die Kurve, in der ich mich gerade befinde – und noch ein bisschen die nächste. Ich habe auf dem Motorrad absolut keine Chance, über irgendetwas nachzugrübeln. Ich bin ganz im Hier und Jetzt. Diese Selbstbesinnung erreicht man natürlich auch über Meditation. Ich bin aber eher der Typ, der die Entschleunigung in allen Formen von Bewegung findet.

Und wie sorgen Sie für Ihre Work-Life-Balance?

Das Wort Work-Life-Balance ist symptomatisch für unsere Gesellschaft. Es impliziert, dass wir nicht leben, wenn wir arbeiten. Bei mir ist die Arbeit Teil meines Lebens und das Leben ist zu grossen Teilen meine Arbeit. Das ergibt alles ein grosses Rundes. Das hat viel damit zu tun, dass ich liebe, was ich mache. Ich bin mir bewusst, dass dies ein grosses Privileg ist. Es kann aber auch eine Haltung sein.

Ihre Geheimtipps in Sachen Entschleunigung und Work-Life-Balance?

Man sollte die Wörter «Work» und «Life» nicht so sehr trennen. Arbeit sollte kein Störmanöver sein beim Versuch, leben zu wollen. Sei dir jeden Tag bewusst, dass du arbeiten gehst, weil du wertvoll bist – und nicht damit du wertvoll bist. Ich empfehle, das Wort Work-Life-Balance aus dem Vokabular zu streichen. Alles, was man tut (oder eben nicht tut), als Teil des Lebens zu betrachten. Und somit: Mit Leben beginnen, bevor man tot ist.

Zur Person

Die Bernerin Livia Anne Richard, 49, lebt mit ihrem Lebenspartner und Sohn (15) in Wabern bei Bern. Seit 2002 inszeniert sie auf dem Gurten in Bern alle zwei Jahre ein Freilichttheater. Mit ihrem Stück «Dällebach Kari» schaffte sie 2006 den nationalen Durchbruch. Mit «The Matterhorn Story» erlangte sie 2015 internationale Anerkennung. Ihr aktuelles Stück «ABEFAHRE! – Stressfrei in 5 Tagen» ist vom 20. Juni – 30. August im Freilichttheater Gurten zu sehen.

 

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Redaktorin, HR Today. mv@hrtoday.ch

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