HR Today Nr. 1&2/2020: Debatte

Sind Chefs ein Auslaufmodell?

Sind Chefs in der Arbeitswelt 4.0 überflüssig geworden, weil Teams sich selber organisieren können und jeder Mitarbeitende eigenverantwortlich handelt? Warum es Chefs in der agilen Zukunft noch braucht – oder eben nicht. Zwei Meinungen, ein Thema.

Nadine Schlegel: «Statt klassische Vorgesetzte wird es verstärkt selbstbestimmte Teams geben.»

Die Forderung, Hierarchien und damit verbunden auch Chefs abzuschaffen, ist aktuell in aller Munde. Aus meiner Sicht ist das allerdings zu kurz gefasst. Zwar haben wir im April 2017 bei Unic, einer Digitalagentur mit knapp 230 Mitarbeitenden, die «Chefs» effektiv abgeschafft. Persönlich würde ich das jedoch lieber so formulieren: Wir haben unsere traditionelle Aufbauorganisation in ein selbstorganisiertes Modell überführt. Einen klassischen disziplinarischen Vorgesetzten gibt es seither bei uns nicht mehr. Vielmehr haben wir klare, transparente Regeln, nach denen wir im Betrieb alle handeln. Diesen wiederum sind Verantwortlichkeiten zugeordnet.

Fakt ist: Selbstorganisation verlangt von jedem Mitarbeitenden sehr viel mehr. Wir benötigen in unserer Organisation Personen, die Verantwortung übernehmen. Leadership ist bei Unic nichts, was nur bestimmten Personen oder Rollen vorbehalten ist. Leadership umfasst für uns Vertrauen und die Verantwortung jedes Einzelnen. Es bedeutet, das Potenzial jedes Mitarbeitenden für die Organisation zugänglich zu machen. Nur so gelingt es uns, neue Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer Mitarbeitende Verantwortung für ihre Rolle übernehmen und somit ihre Arbeits- und Lebenswelten gestalten können. In meinen Rollen im HR, aber auch als ehemalige Head of HR, habe ich den Wandel sehr eng begleitet. Nach gut zweieinhalb Jahren kann ich mit Freude feststellen, dass sich die Mitarbeiterzufriedenheit verbessert und die Fluktuation merklich reduziert hat. Der wohl wichtigste Aspekt ist jedoch, dass sich die Mitarbeitenden stärker über Kompetenzen und Sinnorientierung definieren als über klassische Hierarchien.

Ich bin überzeugt, dass sich künftig noch weitere Unternehmen von der starren Top-down-Struktur verabschieden, um der neuen Arbeitswelt gerecht zu werden. Statt klassische Vorgesetzte wird es verstärkt selbstbestimmte Teams geben. Der Umbruch durch die Digitalisierung ist zudem ein Prozess, der die Art und Weise infrage stellt, wie wir kommunizieren, arbeiten und uns organisieren. Mitarbeitende selbst bleiben jedoch das wertvollste Gut. Wir müssen sie dazu befähigen, sich in der neuen Welt zu bewegen und nachhaltig zu entwickeln. Talente zu gewinnen und zu halten, mit gelebter Wertschätzung und nachhaltiger Feedback-Kultur, werden die Schlüsselthemen der Zukunft sein.

Diese Transformation zu gestalten, hat viel mit der Selbstverantwortung der Einzelpersonen und einem neugierigen, selbstverständlichen Umgang mit der eigenen Entwicklung zu tun. Weg von Management hin zu Leadership. Statt Self-Management brauchen wir Self-Leadership.

Consuela Utsch: «Organisationen brauchen Führungskräfte, um die Transformation gezielt anzugehen.»

Als Teil ihrer Digitalisierungsinitiativen brechen Unternehmen vermehrt in Richtung Selbstorganisation und Agilität auf. Dieser Kulturwandel führt zwangsläufig zur Abschwächung altbekannter hierarchischer Strukturen. Teams organisieren sich selbstständig und treffen strategische Entscheidungen. So viel zur Theorie. Aber wie lassen sich solche tiefgreifenden, aber notwendigen Veränderungen überhaupt angehen? Brauchen Unternehmen Führungskräfte? Meiner Ansicht nach lässt sich diese Frage nur mit einem klaren Ja beantworten.

Manager*innen und Chefs sind gefordert, die Voraussetzungen für den Wandel hin zu mehr Verantwortung zu schaffen. Zu ihren Aufgaben gehört es, sicherzustellen, dass die Initiativen und Ideen der Mitarbeitenden die Gesamtstrategie des Unternehmens unterstützen und voranbringen. Als Brücke zwischen Unternehmensleitung und den in Teams organisierten Mitarbeitenden sorgen sie für optimale Arbeitsbedingungen. Auch in dynamischen Zeiten erwarten Mitarbeitende häufig bestimmte Entscheidungen aus der Führungsetage.

Ruft der Chef das «selbstorganisierte Unternehmen» einfach aus, führt das zu Unsicherheit und Stress aufseiten der Beschäftigten: Plötzlich erwarten alle, dass die Arbeitnehmenden unternehmerisch handeln. Organisationen brauchen deshalb Führungskräfte, um diese Transformation gezielt anzugehen. Wobei Manager*innen und Chefs sich vom Bild des Kontrolleurs verabschieden müssen, denn eine ausschliesslich hierarchische Führung ist schon lange nicht mehr zeitgemäss. Vielmehr entwickeln sich Führungskräfte immer mehr zu Enablern für Mitarbeitende in agilen Organisationen: Sie übernehmen die Rolle des Wegbereiters für innovative und agile Teams. Dabei motivieren sie einerseits die Beschäftigten, neue Denkweisen oder Ideen zu verfolgen, und geben ihnen andererseits klare Leitlinien vor. Zur Begleitung dieser Transformation ist die Führungskraft unerlässlich.

Fazit: Unternehmen brauchen Führungskräfte und damit die Umgestaltung in Unternehmen gelingt, erfordert es maximale Transparenz, kurze Entscheidungswege und direktes Feedback. An diese veränderten Anforderungen muss sich die Rolle der Führungskraft anpassen: Ein guter Chef befähigt seine Mitarbeitenden, ihre Aufgaben bestmöglich erledigen zu können. Zudem braucht die Führungskraft die notwendigen Methoden und Steuerungsmittel, um in organisationsspezifischen Schritten die Mitarbeitenden zu befähigen. Delegieren funktioniert nur, wenn derjenige, der beauftragt wird, Verantwortung tragen und Aufgaben umsetzen kann. Denn: Ohne Führung geht es nicht – besonders in der Zeit des digitalen Umbruchs.

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Nadine Schlegel ist seit über acht Jahren im Bereich People und Human Resources der Digitalagentur Unic tätig. Vor über 23 Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das People-Business. Seither hat sie das HR-Thema nicht mehr losgelassen.

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Consuela Utsch ist Geschäftsführerin und Gründerin der Acuroc Solutions GmbH und der Aqro GmbH. Seit über 20 Jahren berät sie Unternehmen bei der Implementierung von Betriebs- und Projektmanagementprozessen sowie der digitalen Transformation.

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