HR Today Nr. 3/2021: Debatte

Sollen Mitarbeitende bestimmen, wer entlassen wird?

Das Reiseunternehmen Globetrotter hat seinen Mitarbeitenden die Entscheidung überlassen, wer im Team entlassen werden soll. Feigheit, fehlende Führung oder ein innovativer Weg in die Zukunft? Wir haben nachgefragt.

Esmir Davorovic, HR Strategies, HR Campus: «Es mutet fast schon ­zynisch an, bei Team­events den Zusammenhalt zu propagieren, um dann die Mitarbeitenden entscheiden zu lassen, wer entlassen wird.»

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Wer bei dieser Frage an den Plot eines dystopischen Films denkt oder an die Zukunftsszenarien aus der Fernsehserie Black Mirror, kann an dieser Stelle aufhören zu lesen. Sie werden ihre Befürchtungen bekräftigt sehen und wahrscheinlich keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Diejenigen, die darin eine gerechte und menschenzentrierte schöne neue Arbeitswelt sehen, sollten weiterlesen. Denn die Frage mag zum Zeitgeist passen und dürfte so manchem auf den ersten Blick sympathisch erscheinen. Immerhin bedient sie doch unser Bedürfnis nach Selbst- und Mitbestimmung? Bei dieser Frage geht es jedoch um mehr als Strategien und Zahlen. Es geht um Menschen und ihre Integrität. Mitarbeitende stehen immer in Beziehung zueinander und bilden soziale Strukturen. Man teilt Erfolge, regt sich gemeinsam über schwierige Kunden auf, entwickelt Freundschaften, vielleicht sogar Liebschaften. Es mutet fast schon zynisch an, bei Teamevents den Zusammenhalt zu propagieren, um dann die Mitarbeitenden entscheiden zu lassen, wer entlassen wird. Eine unbeschwerte und authentische Teamentwicklung sieht anders aus. Für das Individuum bedeutet es sogar eine doppelte Bürde. Zum einen ist da das Gefühl, ständig von seinen Teamkollegen beurteilt und irgendwann von ihnen entlassen werden zu können. Vor allem introvertierte Personen werden es noch schwerer haben, als das heute schon der Fall ist. Zum anderen hat man die Verantwortung, die richtige Entscheidung treffen zu müssen. Unterliege ich vielleicht selbst dem Halo-Effekt, welcher mir eine objektive Beurteilung verunmöglicht? Bin ich bereit, dem Konformitätsdruck standzuhalten? Stelle ich mich im Zweifelsfall gegen die Mehrheit und riskiere, beim nächsten Mal selbst dran zu sein? Die Verantwortung für die Folgerisiken ist besser bei wenigen Personen aufgehoben, um eine Verantwortungsdiffusion zu vermeiden. Kollektive Verantwortung besitzt eine andere Qualität und ist im Zweifelsfall nicht leicht zuzuordnen. Mitarbeitende, die aus existenzsichernden Gründen auf eine Arbeit angewiesen sind, sind die falschen Versuchskaninchen für solche sozialdarwinistischen Experimente.

Marc Prinz, Rechtsanwalt, VISCHER AG: «Müssten die Mitarbeitenden darüber bestimmen, wem ­gekündigt wird, würde das zu einem konstant angespannten Arbeitsklima führen.»

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Der Arbeitgebende ist gesetzlich dazu verpflichtet, die Mitarbeitenden bei bestimmten Fragen der Betriebsorganisation einzubeziehen – insbesondere bezüglich Gesundheitsschutz. Auch hinsichtlich weiterer Elemente der Ausgestaltung des Betriebs oder des Arbeitsalltags kann es Sinn machen, die Mitarbeitenden beizuziehen oder gar (mit)entscheiden zu lassen. Werden beispielsweise Ziele und Verantwortungen innerhalb des Betriebs gemeinsam definiert, erhöht das die Akzeptanz, was wiederum zu Effizienzsteigerungen führen kann. Über die Frage, ob Mitarbeitende entlassen werden und wenn ja, welche, hat aus unserer Sicht aber der Arbeitgebende alleine zu entscheiden. Müssten die Mitarbeitenden darüber bestimmen, wem gekündigt wird, würde das zu einem konstant angespannten Arbeitsklima führen, was negative Auswirkungen auf den gesamten Betrieb hätte. Die Mitarbeitenden müssten ständig Angst haben, dass jemand fordert, dass sie entlassen werden – ob das nun begründet ist oder nicht. Mobbing und Denunziantentum könnten vor diesem Hintergrund ganz neue Dimensionen annehmen. Der Arbeitgebende hat aber dafür zu sorgen, dass die Persönlichkeit aller Mitarbeitenden geschützt wird (Fürsorgepflicht gemäss Art. 328 OR). Den Entscheid, wer entlassen werden soll, an die Mitarbeitenden zu delegieren, ist daher bereits gestützt auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebenden äusserst fragwürdig und höchst problematisch. Das bedeutet aber nicht, dass der Arbeitgebende in diesem Zusammenhang nicht die Meinung der Belegschaft miteinbeziehen kann. Beschweren sich beispielsweise verschiedene Mitarbeitende regelmässig über das Verhalten oder die Arbeitsweise eines Arbeitskollegen, kann das ein Indiz dafür sein, dass der betreffende Mitarbeitende für die Stelle nicht (mehr) geeignet ist. Ein offenes Ohr für die Anliegen und Vorbringen der Mitarbeitenden ist aus Arbeitgebersicht nie falsch. Der Entscheid, ob Mitarbeitende entlassen werden und wenn ja, welche, ist aus unserer Sicht jedoch eine Führungsaufgabe, die nicht delegiert werden kann und für die der Arbeitgebende exklusiv die Verantwortung übernehmen muss.

Alessandra Zito-Rickenbacher, Psychologin, ConSenso Consulting: «Entlassungen auszusprechen, ist eine Führungsaufgabe.»

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Die Fragestellung erinnert an ein sozialpsychologisches Experiment oder an Survivor Games, wie wir sie aus dem Fernsehen kennen. Im Zusammenhang mit agilen, weitgehend selbstorganisierten Teams erscheint die Frage jedoch gar nicht so abwegig. Allerdings funktionieren auch agile Teams nicht komplett führungslos. Das würde voraussetzen, dass ein Team in jeder Situation komplett autonom zurechtkommt, auch bei allen (internen) Konflikten. Das wiederum dürfte utopisch sein. Als soziales Wesen bevorzugt der Mensch eher ein harmonisches Umfeld und umgibt sich gerne mit Seinesgleichen. Als Individuum hat der Mensch auch eigennützige Interessen, die im Konflikt mit jenen des Teams stehen können. Teams, die sich in Bezug auf ihre Zusammenstellung selbst organisieren, können unter anderem zu homogen werden und dadurch ihre Leistungs-, Innovations- und Veränderungsfähigkeit und letztlich die der ganzen Organisation gefährden. Deshalb ist auch davon abzuraten, die Entlassung von Mitarbeitenden an diese zu delegieren. Entlassungen auszusprechen, ist eine Führungsaufgabe. In erfolgreichen Organisationen leisten Führungskräfte nicht nur einen Beitrag im System, sondern auch am System. Das, indem sie das Umfeld ihres Teams so gestalten, dass jedes einzelne Mitglied sein Potenzial im Sinne des grossen Ganzen entfalten und ausschöpfen kann. Dazu gehört auch, die Teamzusammensetzung zu regulieren. Dabei sollte der Fokus eines Vorgesetzten mehr auf dem «Teamzugang» als auf dem «Teamabgang» liegen. Um zu evaluieren, wer zum Team passt, sollten fundierte Anforderungsprofile vorliegen und die bestehenden personellen Ressourcen akkurat ermittelt werden. Dies sind Aufgaben, die dem Management obliegen, um eine angemessene und zielführende Vielfältigkeit aufrechtzuerhalten und die benötigten Kenntnisse und Fähigkeiten im Team sowie dessen Funktionsfähigkeit sicherzustellen.

 

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