«Spirituelle Intelligenz»: Hokuspokus oder Kernkompetenz?
Nach der «emotionalen Intelligenz» ist mit der «spirituellen Intelligenz» ein neues Schlagwort in der Leadership-Debatte aufgetaucht. Doch was bedeutet diese Führungskompetenz? Und können Schweizer Unternehmen, die sich auf traditionelle christliche Werte berufen, einen Wettbewerbsvorteil für sich verbuchen? Wir haben Victorinox und die CSS dazu befragt.
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Kann ein Unternehmen seinen Umsatz und Gewinn nur steigern, wenn Vorgesetzte den Leistungsdruck auf die Mitarbeitenden erhöhen? Oder führt vielmehr die Rückbesinnung auf ethische Grundwerte wie Respekt, Vertrauen und Wertschätzung zum wirtschaftlichen Erfolg? Mathias Schüz scheint eine Antwort auf diese drängende Frage gefunden zu haben. «In der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften dürfte es inzwischen im Human Resource Management etabliert sein, dass ein Vorgesetzter nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Intelligenz mitbringen sollte», schreibt der Professor für Responsible Leadership am Zentrum für Human Capital Management an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in einem Fachartikel*. Gleichzeitig betont Schüz, dass sich Leistung und der ethische Umgang der Belegschaft gegenüber nicht ausschliessen dürfen.
Schüz stützt seine Aussage indes auf wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse. So müsse eine verantwortungsvolle Führungskraft in einem dynamischen Wirtschaftsumfeld technisches Wissen – also, wie ein Unternehmen profitabel zu führen sei – sowie ethisches wie auch ästethisches Know-how mitbringen. Dafür brauche es laut dem Experten für Human Resources Management bestimmte Führungskompetenzen, die sich mit dem in den USA mittlerweile weit verbreiteten Begriff «spirituelle Intelligenz» zusammenfassen liessen. Diese «spirituelle Intelligenz» befähige eine Führungskraft, intuitiv einen grösseren Sinnzusammenhang zu erfassen, Hoffnungen und Visionen für eine gewünschte Zukunft zu entwickeln, günstige Gelegenheiten zu erkennen und diese persönlich wie auch beruflich gewinnbringend für sich zu nutzen.
Dadurch liessen sich die «Sinne zur Wahrnehmung der inneren und äusseren Natur aktivieren», um den Sinn der eigenen Tätigkeit zu reflektieren und dadurch Lösungen für zukünftige Herausforderungen zu entdecken. Würden Führungskräfte ihren «inneren Kompass» nach solchen ethischen Grundsätzen neu ausrichten, stelle sich der berufliche und wirtschaftliche Erfolg daraufhin bald ein. Dies würden laut Schüz mehrere wissenschaftlich durchgeführte Umfragen belegen. Die Umfragen zeigten demnach, dass sich erfolgreiche Karrieren unter dem Strich auf drei Faktoren zurückführen liessen: gutes Fachwissen, Beziehungsnetz und Orientierungs- oder Reflexionswissen.
«Herzintelligenz» trainieren
Dass sich gelebte Spiritualität in Organisationen positiv auswirkt, glaubt auch Christina Weigl. Die 50-Jährige trainiert Führungs- sowie HR-Fachkräfte in spiritueller Intelligenz – etwa am Zürcher Nobelhotel Dolder Grand. Im Fokus stehen dabei das Dreigestirn «Berufung-Führung-Sinn» und die Potenziale der Menschen. Sie spricht beim Ansatz ihres Coaching-Systems von «Herzintelligenz». Ein Konzept des «HeartMath»-Instituts in den USA. Mit der wissenschaftlich belegten Methode würden Wertschätzung, Dankbarkeit und Intuition bewusster trainiert. Die Erfolge dieses Systems blieben laut Weigl denn auch nicht aus. Welcher Mehrwert aus dem Training für das Zürcher Nobelhotel resultierte, wollte Weigl zwar nicht sagen – genauso wenig, wie stark die Nachfrage nach solchen Führungstrainings in den letzten Jahren angestiegen ist. Jedoch versichert Weigl: «Ein deutsches Unternehmen, das nach dem Prinzip Wertschöpfung durch Wertschätzung führt, konnte den Umsatz binnen drei Jahren verdoppeln.»
Das Schweigen «christlicher» Firmen
Dass sich Firmen auf ethische und spirituelle Werte beziehen, ist indes nicht neu. Einige bekannte Schweizer Firmen wie Trisa, Helvetia oder Läderach betonten in der Vergangenheit stets die Verbundenheit mit den christlichen Werten ihrer Unternehmensgründer oder Konzernchefs. Das gilt besonders für die Glarner Confiserie Läderach. So soll Inhaber Jürg Läderach jede Verwaltungsratssitzung mit einem Bibelzitat beginnen. In einem Interview beantwortete der Patron die Frage nach seiner Lieblings-Bibelstelle wie folgt: «Trachtet zuerst nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen.» Läderach ist in den letzten zehn Jahren dank der Übernahme der Confiserie Merkur von 170 auf rund 750 Mitarbeitende angewachsen.
Nichtsdestotrotz konnten oder wollten weder Läderach, noch Trisa oder Helvetia Fragen zu den Auswirkungen der christlichen Unternehmenswerte auf das HR-Management beantworten. Dasselbe gilt für den Spezialchemiehersteller Sika. Dessen Gründer Romuald Burkard, gründete 1949 die Vereinigung Christlicher Unternehmen VCU. Derzeit tobt beim Baarer Unternehmen allerdings ein erbitterter Übernahmekampf zwischen der Geschäftsleitung und dem Verwaltungsrat sowie den Sika-Erben. Während die Sika-Gründerfamilie um Urs Burkard ihre Unternehmensanteile und damit die Kontrolle der Traditionsfirma für 2,75 Milliarden Franken an den französischen Konkurrenten Saint-Gobain veräussern will, möchte der Verwaltungsrat unter Androhung eines geschlossenen Rücktritts den Deal verhindern. Inzwischen beschäftigt der Machtkampf die Gerichte. Die christlichen Werte des Unternehmens scheinen etwas in den Hintergrund getreten zu sein.
Victorinox als Leuchtturm
Etwas kommunikativer zeigt sich der Krankenversicherer CSS. Man steht zu seinen Wurzeln – wenn auch in modifizierter Form: «Die Werte der CSS Versicherung, die auf dem Prinzip der Solidarität und Gerechtigkeit basieren, werden heute unabhängig von christlichen Grundwerten wahrgenommen», sagt HR-Chef Jean-Pierre Vogt. Damit gehe es bei den gelebten Werten der Mitarbeitenden nicht um Religion, sondern um Ethik. «Die Mitarbeitenden verpflichten sich den Verhaltensregeln der CSS-Gruppe, welche die leistungsbezogenen und ethischen Grundwerte beschreiben.»
Offen kommuniziert auch der Sackmesserhersteller Victorinox: «Wir halten uns an die stark ausgeprägten Werthaltungen der Unternehmerfamilie Elsener. Respektvolles Miteinander, gegenseitiges Vertrauen, Dankbarkeit aber auch Mut und Verantwortung zählen dazu – genauso wie Bescheidenheit», sagt Victorinox-Personalchef Robert Heinzer (siehe Interview). So würden die erwähnten Werte in Jahresgesprächen mit den Mitarbeitenden thematisiert und im Führungscodex festgeschrieben und umgesetzt. Darüber hinaus gehöre zur Victorinox-Philosophie, dass zehn Prozent des Unternehmensgewinns an karitative Organisationen gespendet werden, die Menschen in Not unterstützen. Darüber hinaus gehe es auch darum, kleine Gesten zu pflegen, etwa einander zu grüssen und sich bei Bedarf gegenseitig unter die Arme zu greifen. Auch die Dankbarkeit den Mitarbeitenden gegenüber werde im Betrieb bewusst zelebriert. So gehöre am Ende der Weihnachtsfeier ein persönlicher Händedruck vom CEO zur Tradition, erklärt Heinzer.
«Unsere Werte haben Einfluss auf die HR-Prozesse»
Herr Heinzer, wie wichtig ist die Vereinbarkeit von Spiritualität und Management in Ihrem Unternehmen?
Robert Heinzer: Das Wort «Spiritualität» kennen wir intern nicht. Wir halten uns an die stark ausgeprägten Werte der Unternehmerfamilie Elsener. Respektvolles Miteinander, gegenseitiges Vertrauen, Dankbarkeit, aber auch Mut und Verantwortung zählen dazu – genauso wie eine gewisse Bescheidenheit.
Sie sprechen von einem respektvollen Umgang. Wie sieht dieser konkret aus?
Wir grüssen uns jeden Tag zu Arbeitsbeginn, wünschen uns einen guten Appetit und verabschieden uns jeden Abend voneinander. Wir erleben ebenfalls eine gute gegenseitige Hilfsbereitschaft – insbesondere neue Mitarbeitende erfahren diese gelebte Hilfsbereitschaft bereits in den ersten Arbeitstagen. Hilfsbereitschaft gilt es aber auch nach aussen zu zeigen: Zehn Prozent des Unternehmensgewinns gehen jedes Jahr an karitative Organisationen, die Menschen in Not unterstützen. Darüber hinaus beteiligen sich die Mitarbeitenden und die Geschäftsleitung an Glückskettenaktionen – und wir zelebrieren unsere Dankbarkeit gegenüber langjährigen Mitarbeitenden mit Jubiläumsfeiern. So wissen wir dieses Jahr 45 Mitarbeitende in unseren Reihen, die auf eine 25-jährige Betriebszugehörigkeit zurückblicken. 2016 sind es sogar 65 solcher Arbeitsjubiläen. Bei diesen Feiern gratuliert ein grosser Teil der Belegschaft den Jubilaren und beschenkt sie. Überdies findet die diesjährige Weihnachtsfeier in unserer Stahlhalle statt. Dabei informiert unser CEO die Mitarbeitenden über das abgelaufene Geschäftsjahr und gibt einen Ausblick auf das kommende Jahr. Umrahmt wird diese Feier mit Showacts, Musik und Film. Am Ende erhalten alle Mitarbeitenden einen persönlichen Händedruck vom CEO und ein Weihnachtsgeschenk.
Welche Rolle spielt das HR?
Unsere Werte haben einen entscheidenden Einfluss auf die HR-Prozesse. Sie werden in Mitarbeitergesprächen thematisiert und bilden zentrale Kriterien in der Rekrutierung und Selektion potenzieller neuer Mitarbeitenden. Unsere Werte werden zudem im Führungscodex umgesetzt. So erwarten wir von unseren Führungskräften einen partizipativen Führungsstil, den sie situativ anpassen können. Darüber hinaus wollen wir, dass die Führungskräfte als Vorbild die Werthaltung wahrnehmen und danach leben. Unter dem Strich bilden unsere Unternehmenswerte die Basis der Unternehmenskultur und es ist die Aufgabe von HR, diese global innerhalb von Victorinox zu vermitteln und auszuprägen.
Können Sie mit diesen Grundpfeilern die besten Talente für sich gewinnen?
Moderne Menschen erwarten in der Mehrheit mehr als nur einen opulenten Lohn. Entschädigung ist ein Hygienefaktor, der für sich allein nicht von innen heraus motiviert. Menschen wollen Sinn und Spass erleben, möchten ein Teil der Gemeinschaft sein, wollen sich wohlfühlen und sich einbringen. Somit bin ich davon überzeugt, dass die besten Leute es verstehen, eine gesunde Balance zu finden zwischen ökonomischen Erfordernissen und den intrinsischen Motivatoren.
Aber ist eine wertschätzende Haltung den Mitarbeitenden gegenüber noch zeitgemäss?
Unsere Werte geben uns Lebenssinn. Andererseits schaffen sie ein Klima der produktiven Zusammenarbeit, aber sie spiegeln sich auch in der Haltung gegenüber unseren Kunden und Lieferanten. Deshalb sollen Mitarbeitende durch Achtsamkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft auffallen. Und ja: Diese Haltung bringt uns auch wirtschaftlichen Erfolg.
Robert Heinzer ist Personalchef bei Victorinox.