Studie

Talentmanagement: Stärkung fürs HR oder alter Wein in neuen Schläuchen?

Die Professoren Gerhard Graf und Stephan Laske haben für die noch unveröffentlichte Studie «Talentpolitik auf dem 
Prüfstand» rund 200 Interviews mit Talentmanagement-Verantwortlichen in grossen und mittleren Unternehmen geführt. Ein Zwischenfazit.

Die eine Position: «Nein, bitte nicht. Ich kann den Begriff Talentmanagement nicht mehr hören. Wieder so ein typisches Modethema.» Die andere Seite: «Talentmanagement ist heute mehr denn je eine zukunftsweisende Kernaufgabe. Sie ist Chefsache.» Diese Zitate stammen von Personalverantwortlichen, die für die breit angelegte empirische Studie «Talentpolitik auf dem Prüfstand» interviewt wurden.

Die Kernerkenntnis dieses Zwischenfazits zum Talentmanagement: Je nachdem, wie die Herausforderung angegangen wird, entwickelt das Thema die HR-Landschaft strategisch weiter und etabliert sich als zukunftsweisende Kernaufgabe der Personalarbeit (Kategorie 1) oder es bleibt modische Pflichtübung, eine sprachlich aufgeputzte Form der Personalentwicklung (Kategorie 2) und wird sang- und klanglos wieder verschwinden. Ein Panoptikum von Aussagen aus den knapp 200 Interviews für die erwähnte Studie in Deutschland, Österreich und der Schweiz verdeutlicht diese beiden Kategorien (siehe Kästen). Es zeigt: Wie bei so vielem hängt es davon ab, was man daraus macht.

Talentmanagement der Kategorie 1: 
zukunftsweisende Kernaufgabe der 
Personalarbeit*

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Talentmanagement muss aus unserer strategischen Stossrichtung, unserem zukünftigen Geschäftsmodell und den geschäftskriti-schen Schlüsselpositionen abgeleitet werden. Dann machen wir wirklich strategische Kompetenzsicherung.
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Wir sind in HR dann erfolgreich, wenn wir wissen, dass die wirklich guten Mitarbeiter die wichtigsten Positionen im Unternehmen bekleiden.
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Wir arbeiten intensiv daran, dass alle guten Mitarbeiter sichtbar werden.
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Für uns ist die Talentmanagement-Pipeline gut gefüllt, wenn wir auf allen Ebenen genügend leistungsfähige Mitarbeiter mit Potenzial kennen und diese das entsprechende Alter mitbringen.
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Wir wissen, welche Kompetenzen uns in Zukunft erfolgreich machen.
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Wir gehen so weit, dass die Nachbesetzung der Schlüsselpositionen zu 100 Prozent über unser Talentmanagement abgesichert wird.
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Wir wissen, auf welchen Stellen in unserer Organisation jene Erfahrungen gesammelt werden können, die ganz wichtig sind für unsere Schlüsselpositionen.
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Wir gehen in unseren Entwicklungsprogrammen davon aus, dass unsere Talente wissen, was sie brauchen. Deshalb binden wir sie in die Entwicklung von Lernmodulen aktiv ein.
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Im Talentmanagement haben wir eine klare Rollenverteilung: Die Führungskräfte sollen die Mitarbeiter qualifiziert einschätzen und im Arbeitsalltag fördern und fordern. HR übernimmt die Prozessverantwortung, die sinnvolle Aufbereitung des Datenmaterials, die Bereitstellung hilfreicher Instrumente und ist dafür verantwortlich, dass die Qualität stimmt.
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Jede Führungsperson muss einen persönlichen Nutzen von gutem Talentmanagement haben. Wir bilden das in einer Führungsbilanz ab.

Das Thema ist inzwischen in den Leitungsgremien angekommen

Wie packen Unternehmen dieses Thema an? Die Studie zeichnet ein klares Bild: Der weit überwiegende Teil neigt zur Kategorie 2. Lediglich sieben Prozent der Unternehmen agieren strategisch fundiert und langfristig. Das überrascht nicht. Business-Partner-Modelle hin oder her, nach wie vor entstehen HR-Aufgaben primär aus operativen Notwendigkeiten heraus.

Interessant wird die detailliertere Sicht: Was haben Unternehmen aus diesem Thema in den vergangenen Jahren gemacht? Zweifelsohne führte die intensive Diskussion seit 2009 dazu, dass Talentmanagement in den Leitungsgremien angekommen ist. Heute gibt es kaum mehr Unternehmen mittlerer Dimension oder grösser, in denen dieses Thema nicht auf der Agenda der Executive Boards steht. Doch auch kleinere Organisationen widmen sich dem Thema.

Damit hat Talentmanagement in der Tat das Potenzial, HR in den Unternehmen strategisch zu verankern. Es geht um die Frage: Wie muss sich ein Unternehmen organisieren, um jene Kompetenzen zur Entfaltung zu bringen, die für den strategischen Erfolg ausschlaggebend sind? Dieses strategische Kompetenzmanagement ist originär Aufgabe der Unternehmensleitung. Begegnen HR-Verantwortliche dieser erhöhten Sensibilität in der Unternehmensleitung mit Lösungsrezepten der Kategorie 2, ist eine einmalige Chance vertan: Talentmanagement muss Kategorie-1-Qualität erfüllen.

Ein Talentepool allein zeugt noch nicht von strategischer Orientierung

Mit diesem Anspruch bleibt das Thema in der Unternehmensrealität zwangsläufig nicht in schöngeistigen Sphären oder in Bereichen einfacher Personalentwicklungsmassnahmen stecken. Es konkretisiert sich in Instrumenten wie Erfahrungsmatrix, Succession-Risk-Portfolio, Job-Architektur, gebaut aus 
Erfahrungsprofilen, Kompetenzclustern, strategischen Schlüssel- und Risikopositionen; es umfasst gezieltes Passagenmanagement und reicht bis hin zu innovativen Lernformen wie Inventing with Contrasting Cases, Self-Explanations, Metacognitive Trainings, hinterlegt mit klaren Erfolgsnachweisen. 

Heute identifizieren nahezu sämtliche Organisationen Talente und bilden Talentepools. Auf sie wird im Bedarfsfall «zugegriffen». Damit ist Talentmanagement noch lange nicht mit der strategischen Orientierung verknüpft. Im Gegenteil: Inwiefern das der langfristigen Absicherung der Geschäftsstrategie durch gezieltes Kompetenzmanagement entspricht, ist mehr als fraglich. Vielmehr vermittelt dieser weit verbreitete Zugang den Eindruck: Problem erkannt, Lösungsansatz gefunden, Ergebnis abgeliefert, Talentmanagement ist eingeführt … nächstes Thema. Heute wissen wir: Dieser Zugang springt viel zu kurz.

Talentmanagement der Kategorie 2: 
alles nur alter Wein in neuen 
Schläuchen*

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Bei uns ist jeder Mitarbeiter ein Talent. Diejenigen, die für die Karriere in Frage kommen, sind Potenzialträger.
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Für uns ist Talent Management Personalentwicklung für eine besondere Zielgruppe.
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Wir haben jetzt 30 Mitarbeiter identifiziert und ein Bildungsprogramm gestartet. Wenn dieses Programm nach zwei Jahren abgeschlossen ist, beginnen wir mit dem nächs-ten Programm.
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Talentmanagement setzt bei uns bei der Person an.
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Wir haben ein tolles Programm zusammengestellt. Die Teilnehmer haben eine Woche in Boston und eine Woche in den USA im Programm.
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Unsere Talente sind sehr zufrieden mit dem Programm.
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Wir messen den Erfolg, indem wir die Fluktuationsrate unserer Talentegruppe mit der allgemeinen Fluktuation im Unternehmen vergleichen.
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Auf unseren Talentepool greifen die Führungskräfte hoffentlich bei der Nachbesetzung zu.
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Ich gebe dem Management regelmässig unsere Kennzahlen bekannt. Was die damit machen, weiss ich nicht.
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Für uns ist Talentmanagement im Wesentlichen in die Nachfolgeplanung integriert.
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Im Moment versuche ich, ein 1:1-Verhältnis zwischen Talenten und nachzubesetzenden Stellen hinzubekommen.
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Unser Talentmanagement konzentriert sich generell auf die Nachfolge. Hier ist jede Führungskraft gefordert, diese zu benennen.
  • 
Ich will nicht, dass die Mitarbeiter davon wissen. Wir haben eine Liste von Talenten, die in erster Linie nur der Vorstand und ich kennen.
  • * 
Zitate von HR-Verantwortlichen aus der Studie 
«Talentpolitik auf dem Prüfstand».

Bei knappem Budget wird «business as usual» praktiziert

Der schnelle Griff zur einfachen Lösung hat mehrere (durchaus nachvollziehbare) Ursachen:

  • 
Die Logik der Personalarbeit zielt in der Regel auf die rasche Sicherung der Funktionsfähigkeit, auf einen reibungslosen Service: «Die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt auf dem richtigen Platz!»
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Mit gutem Grund gilt in Unternehmen in der Regel das Prinzip «Keep it short and simple!» Das überzeugt aber nur dann, wenn die schnellen und einfachen Lösungen die Komplexität des Problems nicht unzulässig vereinfachen. Typisch dafür ist etwa die Identifizierung von Talenten nach dem 9-, 12- oder 16-Felder-Schema ohne Klärung der zukünftigen Bedarfe. Man braucht schon viel Glück, um hier auf Dauer nicht Überforderung bei den Führungskräften, Frustration bei den Nominierten und Hilflosigkeit bei den Personalentwicklern zu erzeugen.  
  • Der Personalbereich kommt mit einem meist knappen Budget aus und macht «business as usual».  
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Sowohl in der Selbst- als auch Fremdwahrnehmung befindet sich HR oft nicht im Kern strategischer Entscheidungsfindung. Im «Dienstbotenkammerl» weiss man nicht, was sich die Herrschaft gerade ausdenkt …
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Schliesslich bringen viele HR-Verantwortliche nicht die notwendige strategische Kompetenz mit. Sie wird ihnen auch oft nicht abverlangt. Eine nachhaltige strategische Verankerung des Themas wird damit nahezu unmöglich. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf.

Der Hype ums Talentmanagement scheint abzuklingen

Wird Talentmanagement im Sinne der Kategorie 1 verstanden und langfristig im Unternehmen etabliert, findet zwangsläufig strategische Kompetenzentwicklung statt, erfolgt die Nachbesetzung von Schlüsselpositionen konsequenterweise mit den geeigneten Personen aus der eigenen Mitarbeiterschaft, wird HR automatisch strategisch ausgerichtet sein. Und der in zahlreichen Studien belegte Return on Invest wird sich einstellen.(1)

Soll das gelingen, sind Personalverantwortliche und Unternehmensleitung gleichermassen gefordert. Es braucht ein grundsätzliches Umdenken und entsprechendes Handeln von beiden Seiten. Das ist nicht einfach. Damit es trotzdem gelingen kann, greifen Unternehmen meist auf Experten beziehungsweise Expertenwissen zurück. Wo steht hier die Diskussion?

Kritische Leser mögen darauf verweisen, dass es in den letzten Jahren einen Talentmanagement-Hype gegeben hat und daher genug qualifiziertes Wissen vorhanden sein müsste. Doch der Hype scheint abzuklingen. Die Zahl der einschlägigen Publikationen wird weniger, es gibt kaum noch erwähnenswerte neue Aspekte. Innovative Ansätze sind Mangelware; eher findet man sie in englischsprachigen Veröffentlichungen.

Jeder Berater ist ein Talentmanagement-Profi

Bei Kongressen steht das Thema nicht mehr an vorderster Front. Solange sich aber keine Erfolg versprechenden neuen Moden am Horizont abzeichnen – abgesehen von einer möglichen Big-Data-Welle(2) –, wird Talentmanagement auf den Agenden der Veranstalter bleiben. Darin kann – trotz aller Kritik – auch eine Chance liegen.

Bleibt noch der Blick auf den Bereich der Berater. Nahezu jedes einschlägige Beratungsunternehmen führt das Thema Talentmanagement auf seiner Homepage. Die Szene vermittelt den Eindruck, dass jeder, der im Rahmen des Beratungsalltages nur irgendwie mit diesem Thema in Kontakt kommt, es in sein Leistungsportfolio aufgenommen hat. Dabei sind substanzvolle Ansätze der Kategorie 1 nicht weit verbreitet, jedoch durchaus vorhanden. 

Direkter Kurs auf das Zukunftsthema unserer Wissensgesellschaft

Fazit: Talentmanagement bringt im Kern genügend Potenzial mit, um die gesamte HR-Landschaft stärker auf der Ebene der Unternehmensleitung zu etablieren. Legt man den Fokus auf strategisches Kompetenzmanagement, eröffnet sich ein weites Feld an Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Damit kommt Talentmanagement unmittelbar in Verbindung mit Wissensmanagement, Lehr-Lern-Forschung, Neurowissenschaften, Erfahrungslernen etc. – und damit sind wir direkt im Zukunftsthema unserer Wissensgesellschaft angekommen.

  • (1) 
vgl. Transformation Management AG (2012): «Talentpolitik auf dem Prüfstand»; internes Papier: internationale Studie, Zwischenergebnisse. Sowie: McKinsey-Studie 2009, 
Studie der Hackett Group von 2009, Studie von McBassi & Co vom Jahr 2006.
  • (2) vgl. dazu Harvard Business Manager 11/2012.

Video zum Thema «Herausforderungen im HR der Zukunft»

 

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Prof. Dr. Gerhard Graf promovierte in Wirtschaftswissenschaften und ist Vorsitzender des Vorstandes der Transformation Management AG in St. Gallen sowie 
Dozent für Change Management.

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Stephan Laske, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik, Universität Innsbruck, seit 2009 im «aktiven Ruhestand». Mitglied des Vorstands und wissenschaftlicher Beirat der Transformation 
Management AG.

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