Von der Liebe zu Olympia
Mit der zunehmenden Digitalisierung ist eine Umwälzung verbunden, die ähnlich fundamental ist wie die Erfindung der Dampfmaschine. Wir werden künftig noch mehr intelligente Automaten für uns arbeiten lassen. Doch was fängt der Mensch mit dieser neuen Freiheit an? Gedanken zur Geschichte der Automation.
Vor etwas mehr als 100 Jahren lief das erste T-Modell in der Fabrik von Henry Ford vom Band. (Foto: «Ford T Jon Sullivan» von Jon Sullivan, Wikipedia)
Bezaubernd schön muss Olympia gewesen sein, denn beim ersten Blick auf sie ist es um Hoffmann geschehen. Verehrend und umwerbend macht er sich zum Idioten und lässt sich auch vom besten Freund nicht vom Versuch abbringen, Olympias Herz zu gewinnen. Dass diese nur naiv agiert, monoton kommuniziert und sich auch zum Walzer hölzern bewegt, fällt dem liebesblöden Hoffmann nicht auf.
Erst als ihm die Brille des mysteriösen Coppelius abgerissen wird, sieht er, was Olympia immer schon war: eine mechanische Puppe.
In der Oper «Hoffmanns Erzählungen» von Jacques Offenbach verkörpert Olympia die Hybris des Automaten. Mit scharfem Blick wird ihr wahres Wesen entlarvt als Monotonie gepaart mit Zügellosigkeit. Die Oper wurde 1881 uraufgeführt, doch die ihr zugrunde liegende Erzählung publizierte E. T. A. Hoffmanns schon 1816 als alchimistische Schauergeschichte.
Angetrieben durch Dampf beginnen in jenen Jahren die Maschinen zu arbeiten und hämmern, fördern, zerteilen, pressen, wuchten, weben – zehntausendmal die gleichen Arbeitsschritte und ohne zu klagen. Immer neue Möglichkeiten werden gefunden, bisherige Handarbeit durch Maschinen zu ersetzen. Die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, in Europa rauchen die Schornsteine, Eisenbahnen verbinden Städte, Ingenieure und Konstrukteure wetteifern um neue Maschinen, Aktiengesellschaften werden die neue Form der Kapitalisierung und lösen eine Gründungswelle aus.
Die Maschinen sind dann am produktivsten, wenn die Herstellung eines Gutes in Einzelschritte zerlegt wird (Taylorismus). Arbeiter dienen den Maschinen und sorgen dafür, dass diese rund um die Uhr laufen. Um das zu erreichen, wurde ihnen die Hoheit über die Arbeit des Menschen und seine Bedürfnisse übertragen.
Die industrielle Revolution war möglich, weil von Menschen erzeugte Energie für die Produktion eingesetzt werden konnte. Maschinen waren nun in der Lage, bisher manuelle Tätigkeiten zu übernehmen und zuverlässiger auszuführen. Damit verloren Hunderttausende von Handwerkern und Bauern ihre Arbeit und wanderten als Arbeiter in die neu gegründeten Fabriken, wo sie nicht selten ausgebeutet wurden. Die Folge waren Armut in den nicht-industrialisierten Regionen in Europa, aber auch – aufgrund fehlender sozialer Sicherungssysteme – in den neuen Industrien. Diese Entwicklung schuf ein neues, wohlhabendes Bürgertum, sorgte aber auch für soziale Unruhen und Revolutionen der Stände und führte schliesslich zu modernen Sozialgesetzen – die Errungenschaft einer Politik, welche die Rahmenbedingungen einer sich industrialisierenden Gesellschaft zwangsläufig anerkennen musste.
Die Fabrik wird zum Automaten
Wo gewerbliche Berufe starben oder in ein Nischendasein verbannt wurden (Glasbläser, Weber, Schmiede etc.), entstanden neue Berufsbilder. Beispielhaft formte sich die moderne Betriebswirtschaftslehre, die nötig war, um Konzernstrukturen zu organisieren. Bis heute ist die Betriebswirtschaft die Grundlage für unzählige weitere Spezialisierungen in Produktion, Marketing, Finanzierung und so fort. Vor allem das Ingenieurwesen erlebt bis heute eine Blüte, denn dort entstehen die technologischen Innovationen, die ständig zu neuen Verfahren und Prozessen und letztendlich zu höherer Produktivität führen sollen.
Die Verbreitung von Computern ab den Siebzigerjahren und das immer dichter gesponnene Internet seit den Neunzigern beschleunigen die Automatisierung aller Lebensbereiche. Jetzt wird es möglich, Maschinen zu programmieren, Daten auszutauschen und gesamte Fertigungsprozesse zu steuern und zu überwachen. Die Fabrik selbst wird zum Automaten und spuckt tausendfach das gleiche Produkt in gleicher Qualität aus. Und wieder dienen wir den Maschinen. Programme werden selten für die Bedürfnisse der Menschen geschrieben, sondern für die Effizienz der Maschine.
Doch auch die Form, wie die Arbeit verrichtet wurde, hat sich grundlegend verändert. Arbeitsprozesse werden von Software gesteuert und ordnen den Menschen ihrem Takt unter. Es wurden technologische Infrastrukturen (Hardware und Software) errichtet, die zunehmend autark funktionieren und eine immer grössere Automatisierung ermöglichen.
Die Rolle des Menschen
Der Maschinenführer oder die Sachbearbeiterin entscheidet schon lange nicht mehr autonom, sondern folgt den Schritten softwarebasierter Prozesse. Software wurde zur unsichtbaren und omnipräsenten DNA von Unternehmen; fällt sie aus, ist ein Unternehmen handlungsunfähig. Software erzeugt den Beat entlang der gesamten Wertschöpfungskette, sie kommandiert, kontrolliert, überwacht und wertet aus. Ihr Job ist es, alle notwendigen Ressourcen – einschliesslich der Menschen – so effizient wie möglich einzusetzen.
Automaten haben auch unser persönliches Leben verändert. Unsere Wohnungen sind voll davon und auch wir haben uns in Olympia verliebt: Automaten zum Waschen, Trocknen, Bügeln, Kaffeekochen, Brotbacken, Heizen, Rasenmähen und so fort. Alle technologischen Innovationen, die zu höherer Automatisierung führen, werden mit dem Versprechen eingeführt, dass sie unser Leben erleichtern, uns mehr Zeit verschaffen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Noch dienen uns die Automaten.
Ab dem Moment jedoch, wo praktisch alles mit allem verbunden ist (Internet der Dinge) und der alles vorantreibende Stoff nicht mehr Dampf ist, sondern Daten geworden sind, wird der Mensch wieder Autonomie verlieren – wie die Uhr, die individuelle Gesundheitsdaten erfasst und dem Träger anzeigt, dass er nun joggen gehen muss. Das mag zu höherer Produktivität, Effizienz und Sicherheit führen oder unser Leben leichter, komfortabler oder gesünder machen. Damit verbunden ist aber eine Umwälzung, die ähnlich fundamental ist wie die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watts, die zum Nukleus der industriellen Revolution wurde.
Wie sich Arbeit verändern wird
Immer modernere Maschinen, Roboter und Automaten, gefüttert mit unvorstellbaren Datenmengen (Big Data) und gesteuert von intelligenten Systemen, werden dem Menschen weiterhin Arbeit entreissen. Ein Auto bauen oder ein Auto fahren – beides wird bald vollständig automatisiert sein. Vor allem solche Tätigkeiten, die geringe situative Kompetenz erfordern, werden mit Hilfe von Technologie weiter automatisiert werden. Und dort, wo weiterhin ein Mensch nötig ist, werden komplexe Systeme ihn steuern und kontrollieren und so seinen Spielraum einschränken.
Zunehmende Digitalisierung wird tief in unser Leben und unsere Arbeit eingreifen. Anstatt schwere oder eintönige Arbeit selbst zu verrichten, werden wir intelligente Automaten für uns arbeiten lassen. Doch was fängt der Mensch mit dieser neuen Freiheit an?
Zur Zeit der Industrialisierung suchten Handwerker und Bauern neue Arbeit in Fabriken oder Bergwerken. Nicht alle konnten so überleben. Auch in der neuen digitalen Revolution werden viele Berufe an Bedeutung verlieren oder gar verschwinden. Nur wenige Arbeitende werden sich zu solchen Ingenieuren oder Programmierern umschulen lassen, die andererseits dringend gesucht werden – was folglich zu höherer Arbeitslosigkeit führen wird. Nicht nur, aber in hohem Masse, wird es niedrig qualifizierte Mitarbeiter treffen. Wenn die Fabrik autark Autos herstellt und diese sogar fahrerlos unterwegs sind, braucht es keine Facharbeiter oder Taxifahrer mehr.
Diejenigen, die weiterhin Arbeit haben, müssen sich stärker anpassen: den allgegenwärtigen, software-gesteuerten Prozessen. Die Ressource Mensch wird weiterhin optimiert werden bis an den Punkt, wo eine biologische Grenze erreicht ist: Software und Maschinen können 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr pausenlos laufen – der Mensch kann das nicht. Sobald Maschinen eine Tätigkeit zu niedrigeren Grenzkosten als Menschen erledigen können, wird diese Tätigkeit für den Menschen verloren sein.
Herausforderungen und Chancen
Es werden, wie zu Beginn der Industrialisierung, neue Berufsprofile entstehen, andere werden verschwinden. Menschen werden ihre Arbeit verlieren und keine mehr finden, andere werden Berufe erlernen, die es heute noch nicht gibt.
Unternehmen nutzen Technologien, um agiler und produktiver zu werden. Das hilft ihnen dabei, schneller auf Veränderungen bei Kunden und Wettbewerbern zu reagieren, innovativer zu werden und höhere Werte für die Eigentümer zu schaffen. Es wird weitere Jahre brauchen, um die Rahmenbedingungen zu verändern; Kapital und Talente sind begrenzte Ressourcen. Aus diesem Grund setzen Unternehmen ihre individuelle Digitalisierung nicht in einem grossen Schritt um, sondern in einzelnen Massnahmen – und die meisten Unternehmen sind längst dabei.
Als Folge der stetigen Digitalisierung entstehen drei Gruppen von Arbeitenden: solche, die nicht mehr benötigt werden; solche, die sich weiter qualifizieren müssen; und solche, die neu gesucht werden.
Auf Unternehmen wie auch auf die Gesellschaft entsteht ein dynamischer Veränderungsdruck wie vor über 150 Jahren. Die Herausforderung besteht darin, Menschen für solche Anforderungen zu qualifizieren, die nur teilweise oder gar nicht bekannt sind. Der Fokus des Lernens wird auf Fähigkeiten und Fertigkeiten liegen, die Maschinen nicht übernehmen können, also auf sozialen und kreativen Kompetenzen. Leider sind die öffentlichen Schulsysteme noch dem alten, industriellen Denken verhaftet und nicht in der Lage, diese Fähigkeiten zu vermitteln. Junge Arbeitende haben viel Wissen angesammelt, das jedoch in der digitalisierten Welt schnell bedeutungslos wird. Und die genannten zukünftig benötigten Kompetenzen werden an staatlichen Schulen meist nicht erworben.
Aberwitzige Utopien
Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden Unternehmen selbst die Verantwortung für neue Kompetenzen, Bildungswege und Berufsbilder übernehmen. Weil die Digitalisierung zu neuem Wohlstand für die Besitzenden bei gleichzeitigem Verlust von Arbeit führt, wird die Gesellschaft mit ihren politischen Organen dafür sorgen müssen, dass von steigender Produktivität alle profitieren. Marx’ Trennung von Kapital und Arbeit gilt nach wie vor, jedoch mit der Veränderung, dass für die Arbeit immer weniger Menschen nötig werden. Plötzlich klingen Konzepte wie das vom bedingungslosen Grundeinkommen nicht mehr wie aberwitzige Utopien, sondern werden möglicherweise die Errungenschaft einer postmodernen, digitalisierten Gesellschaft.
Olympia war nur ein tanzender Automat. Hoffmanns Liebe erlosch in dem Augenblick, in dem er seine Brille abnahm. Dieser klare Blick auf die Realität ist auch heute geboten. Technologien leisten Grossartiges und Unglaubliches und werden das Leben vieler Menschen verbessern. Doch bei allem sollten wir uns darauf besinnen, was das Mensch-Sein ausmacht und die Autonomie über die Maschinen zurückerobern. Könnte Olympia eines Tages auch tanzen wie ein Mensch, würde sprechen, handeln oder sogar riechen wie einer – sie würde immer ein Automat bleiben. Hoffmanns letzte Sehnsucht wird sie niemals erfüllen.