HR Today Nr. 11&12/2022: Schwellenwerte bei Massenentlassungen

Wann spricht man von einer Massenentlassung?

Eine PostNetz-Filiale entliess eine Angestellte. Diese erhob Klage, weil es schweizweit weitere Entlassungen gegeben hatte und deshalb der Schwellenwert für Massenentlassungen überschritten worden sei. Das Bundesgericht beruhte sich beim Entscheid auf die Unabhängigkeit des Betriebes.

BGer 4A_531/2021, Urteil vom 18. Juli 2022

Das Urteil: Wurde der Schwellenwert für Massenentlassungen überschritten?

Die Klägerin war seit April 2001 bei der Post im Geschäftsbereich PostNetz als Filialmitarbeiterin beschäftigt. PostNetz verwaltet sämtliche Filialen der Post; die Filialen wiederum werden von einem Filialverantwortlichen geführt. Im Zuge einer avisierten Verbesserung des Kundenservices beabsichtigte die Arbeitgeberin, mit der Klägerin eine abweichende Arbeitszeit-Regelung zu treffen. Nachdem der Versuch einer einvernehmlichen Regelung scheiterte, sprach die Arbeitgeberin im Januar 2018 der Klägerin eine Änderungs-Kündigung aus, verbunden mit dem Angebot, das Arbeitsverhältnis unter geändertem Arbeitszeit-Modell fortzusetzen.

Die Klägerin erhob Klage gegen die Kündigung und machte unter anderem geltend, dass die Konsultationspflichten im Zusammenhang mit Massenentlassungen im Vorfeld nicht ordnungsgemäss erfüllt worden seien und die Kündigung somit missbräuchlich sei. Abhängig von der Zahl der Beschäftigten in einem Betrieb handelt es sich bei Überschreiten einer bestimmten Zahl von Kündigungen (sogenannter Schwellenwert) binnen 30 Tagen um eine Massenentlassung. Dabei müssen die massgeblichen Schwellenwerte innerhalb eines «Betriebs» erreicht werden. Liegt eine Massenentlassung vor, treffen den Arbeitgebenden vor Kündigungsausspruch besondere Pflichten, unter anderem die Anzeige der Massenentlassung bei der zuständigen Arbeitsvermittlung und die Konsultation mit den Mitarbeitenden beziehungsweise deren Vertretungen.

Im zugrundeliegenden Fall hatte es bei PostNetz im zeitlichen Zusammenhang offenbar schweizweit weitere Entlassungen gegeben, die den Schwellenwert für eine Massenentlassung überschritten – sofern man sich auf den Standpunkt stellte, dass der relevante «Betrieb» im Sinne von Art. 335d OR nicht die Filiale, sondern der Geschäftsbereich PostNetz gewesen sei. Entsprechend argumentierte die Klägerin.

Dem ist das Bundesgericht nicht gefolgt: Ausgehend vom Wortlaut der Regelung handle es sich beim «Betrieb» um eine Organisationsstruktur, die mit Personal, materiellen sowie immateriellen Betriebsmitteln ausgestattet ist, um einen arbeitstechnischen Zweck zu verfolgen und die über eine gewisse Selbstständigkeit verfügt. Das Merkmal der Selbständigkeit legt das Bundesgericht dabei weit aus und lässt eine relative Selbständigkeit genügen. Das sei bei der Filiale gegeben, in der die Klägerin arbeitete: Die Filiale verfüge über Personal, über eine eigene Organisationsstruktur und der grösste Teil der internen Angelegenheiten, wie die laufende Verwaltung der Mitarbeitenden, Materialbestellungen, Buchhaltung und Sicherheit, werde durch den Filialverantwortlichen selbständig geregelt. Unerheblich sei insoweit, dass diese keine Entscheidungsbefugnis über die Schaffung etwaiger Planstellen, die Mitarbeitendenauswahl und die Verwaltung derer Arbeits- und Urlaubszeiten habe – das stelle die hinreichende Selbständigkeit der Filiale nicht in Frage.

Das Bundesgericht nahm den Entscheid zum Anlass, zur bislang noch offenen Frage Stellung zu nehmen, ob bei mehreren, örtlich nah beieinanderliegenden Betrieben Entlassungen unter Arbeitnehmerschutz-Gesichtspunkten zusammenzuzählen sind. Auf diese Weise würde die Schwellenwerte einer Massenentlassung erreicht, obwohl diese in den einzelnen Betrieben für sich genommen nicht erreicht wären. Unter Hinweis auf den Willen des Gesetzgebenden, Arbeitgebenden die notwendige Flexibilität zu gewährleisten sowie dem Wortlaut des Gesetzes, der eine solche Addition nicht vorsieht, erteilt das Bundesgericht dieser Auffassung allerdings eine Absage.

Konsequenz für die Praxis: Geographische Nähe nicht ausschlaggebend

Aus Arbeitgebersicht ist der Entscheid des Bundesgerichts zu begrüssen. Es besteht nunmehr Rechtssicherheit darüber, dass Entlassungen aus geographisch nah beieinander liegenden Betrieben nicht addiert werden können, beziehungsweise müssen. Der Anwendungsbereich des Massenentlassungsschutzes und damit einhergehende Konsultationspflichten werden also nicht weiter ausgedehnt.

Indes verbleiben Unsicherheiten. Denn ob die Leiterin einer Betriebsstätte im Einzelfall über eine hinreichende Entscheidungsmacht verfügt, damit ein «Betrieb» (noch) angenommen werden kann, unterliegt letztlich einer wertenden Betrachtung des im Streitfall angerufenen Gerichts. Besonders in Grenzfällen ist das Risiko für Arbeitgebende wegen Nichtbeachtung des Massenentlassungsverfahrens sanktioniert zu werden, nicht von der Hand zu weisen. Klagende Beschäftigte können zum einen eine Entschädigung wegen missbräuchlicher Kündigung einklagen, wobei diese auf zwei Monatslöhne beschränkt ist.

Das Vorliegen einer Massenentlassung sollte daher im Einzelfall stets sorgfältig geprüft und die verbundenen Arbeitgeberpflichten im Zweifelsfall ordnungsgemäss durchgeführt werden, insbesondere die Konsultation mit den Mitarbeitenden oder deren Vertretung.

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Simone Wetzstein ist Fach­anwältin Ar­beits­recht. Zusammen mit ihrer Berufskollegin Irène Suter-Sieber leitet sie das Arbeitsrechtsteam von Walder Wyss.

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