Wann verliert man die Mutterschaftsentschädigung?
Kathrin Bertschy war im Mutterschaftsurlaub, ging aber als Nationalrätin ihren demokratischen Pflichten nach. Deswegen wurde ihre Entschädigung gestrichen. Begründung und Konsequenz des Urteils.
Illustration: Jonas Raeber.
BGer 9C_469/2021, Urteil vom 8. März 2022
Das Urteil: Streichung der Mutterschaftsentschädigung
Nationalrätin Kathrin Bertschy war seit Dezember 2011 als Nationalrätin und ab Juli 2012 als Selbständigerwerbende tätig. Nach der Geburt ihres Kindes im Dezember 2018 bezog sie bis zum 30. März 2019 die gesetzlich vorgesehene Mutterschaftsentschädigung.
Ab dem 4. März 2019 nahm Kathrin Bertschy in ihrer Funktion als gewählte Nationalrätin an der März-Session der Bundesversammlung teil. Sie übte dabei ein politisches Amt aus, bei dem sie sich nicht vertreten lassen durfte und das demokratische Recht der Mitwirkung nur durch ihre Präsenz wahrnehmen konnte. Trotzdem qualifizierte das Bundesgericht die nationalrätliche Tätigkeit als reguläre (Teilzeit)-Erwerbstätigkeit.
Aufgrund ihrer Teilnahme an der März-Session und einzelner Kommissionssitzungen sowie der Abstimmungen im Nationalrat strich die Ausgleichskasse Kathrin Bertschy die gesamte Mutterschaftsentschädigung ab 4. März 2019 – auch für die selbständige Tätigkeit, der sie nebst politischem Amt vor der Geburt nachgegangen war, die sie aber während des Mutterschaftsurlaubs nicht ausgeübt hatte.
Hintergrund
Bei der Begründung der Streichung der Mutterschaftsentschädigung stützten die Ausgleichskasse und die Gerichte ihren Entscheid auf Art. 16d EOG, wonach der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung vorzeitig endet, «wenn die Mutter ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnimmt». Konkretisiert wird dieser Artikel durch Art. 25 EOV. Dieser besagt: «Der Anspruch der Mutter auf Entschädigung endet am Tag der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit, unabhängig vom Beschäftigungsgrad.»
Diese Bestimmungen legte das Bundesgericht im zitierten Urteil sehr eng aus. In einem früheren Urteil sah das Bundesgericht diesbezüglich mehr Spielraum und hielt fest, dass der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung trotz Aufnahme einer Teilzeiterwerbstätigkeit während des Mutterschaftsurlaubs weiter bestehe, wenn nur eine geringfügige Nebenerwerbstätigkeit, nicht aber die Haupttätigkeit wieder aufgenommen werde.
Obwohl die zitierten Bestimmungen von EOG und EOV nicht festlegen, was gilt, wenn die Erwerbstätigkeit während der Dauer der Mutterschaftsentschädigung wieder beendet wird, hielt das Bundesgericht fest, dass der Anspruch auch nach Beendigung nicht wieder auflebe. Das im Unterschied zur Vaterschaftsentschädigung, bei der eine solche Aufteilung des Anspruchs im Gesetz vorgesehen ist.
Konsequenz für die Praxis: Risiko sporadischer Arbeitseinsätze
Obwohl die Aufnahme einer nationalrätlichen Tätigkeit während des Mutterschaftsurlaubs für die wenigsten Arbeitnehmerinnen relevant sein dürfte, sind (sporadische) Arbeitseinsätze mit entsprechender Arbeitszeiterfassung für Mütter im Mutterschaftsurlaub doch oftmals ein Regelfall: Denkbar ist beispielsweise die Teilnahme an einer einmaligen Sitzung zu einem Projekt, für das die Arbeitnehmerin vor ihrem Mutterschaftsurlaub allein und über Jahre verantwortlich war. Denkbar ist auch die (im Hintergrund erfolgende) Teilnahme an einem Kongress, den diese vor ihrem Mutterschaftsurlaub organisiert hatte. Möglich wäre auch, dass eine Mutter im Mutterschaftsurlaub eines von mehreren Teilzeitpensen wieder aufnimmt.
Werdende Eltern sollten vor der Wiederaufnahme der (Teilzeit-)Erwerbstätigkeit
Die denkbaren (geringfügigen) Teilzeiterwerbstätigkeiten, die während des Mutterschaftsurlaubs aufgenommen werden könnten, sind schier endlos – und damit auch das Risiko für die entsprechenden Arbeitnehmerinnen: Denn das geschilderte bundesgerichtliche Urteil verdeutlicht, dass die zuständige Ausgleichskasse bei Kenntnisnahme einer solchen (befristeten) Teilzeiterwerbstätigkeit die Zahlung der Mutterschaftsentschädigung mit grosser Wahrscheinlichkeit einstellen wird.
Arbeitgebende sollten sich dieser Konsequenzen bewusst sein und Arbeitnehmerinnen im Mutterschaftsurlaub entsprechend informieren. Das nicht nur zum Schutze der Arbeitnehmerinnen, denkbar wäre nämlich je nach Konstellation auch, dass die Arbeitgebenden bei Wegfall der Mutterschaftsentschädigung eine Lohnfortzahlungspflicht für die restliche Dauer des Mutterschaftsurlaubs trifft.