Stärken kombinieren

Wie Mensch und KI sich ergänzen

Künstliche Intelligenz ersetzt nicht Menschen oder ganze Jobs, sondern verändert die Aufgabenteilung zwischen Mensch und KI. Fürs HR bedeutet dies, die Vorteile beider Intelligenzen sinnvoll zu kombinieren, um menschliche Stärken effektiver zu nutzen.

Viele Menschen erleben gerade eine Art ungläubigen Erweckungsmoment. Mit generativer künstlicher Intelligenz (KI), wie beispielsweise ChatGPT, wird KI sichtbar, beobachtbar und anfassbar. Es drängt sich die Frage auf: Und wofür brauchen wir nun noch Menschen im Job? Das ist eine Frage, die HR-Professionals gleich doppelt betrifft: Erstens, weil die Aufgabenteilung zwischen Mensch und KI in praktisch allen Jobs neu definiert werden muss. Zweitens, weil ganz besonders im praktischen HR-Management bei aller Technologisierung die menschlichen Kompetenzen nicht vernachlässigt werden dürfen. Denn davon hängt eine nachhaltige Personal- und Organisationsentwicklung ab.

Künstliche Intelligenz wird keine Menschen oder ganze Jobs ersetzen. Diese Befürchtung ist unbegründet. KI wird aber in Jobs bestimmte Aufgaben übernehmen, die sie besser, schneller und effizienter abarbeiten kann, als Menschen das bisher getan haben. Es geht hier um grundsätzliche Veränderungen, denn KI ist eine universelle Technologie und ein technisches Prinzip, das auf die unterschiedlichsten Bereiche und Aufgaben adaptiert werden kann. Die Änderungen sind vergleichbar mit der Revolution durch «das Internet» in den letzten Jahrzehnten.

Wo KI Spitzenleistungen erbringt

Um die Frage zu beantworten, wie die Aufgabenteilung aussieht und auf welche Aufgaben und Kompetenzen wir uns als Menschen konzentrieren sollten, müssen wir uns die Domänen von KI und Mensch klarmachen. Das ist essenziell für HR-Entscheidungen und HR-Strategien in Bezug auf die gesamte Unternehmensorganisation – und ebenso für die interne Organisation der HR-Aufgaben selbst. «Domänen» sind dabei die Aufgaben, in denen Menschen oder KI Spitzenleistungen erbringen (können), die gleichzeitig für die jeweils andere Seite im Vergleich eher schlecht oder gar nicht erreichbar sind.

Die Domänen für KI sind dabei Erkennen, Zuordnen, Vergleichen, Optimieren und Prognostizieren. Und schon hier am Anfang müssen wir eine Einschränkung machen. Wenn es um Erkennen, Zuordnen und Vergleichen geht und die Datenlage qualitativ und quantitativ gut ist, dann ist KI unschlagbar. Gehen wir einmal gedanklich verschiedene Jobbeschreibungen und tägliche Abläufe durch und suchen nach Aufgaben, bei denen es um Erkennen, Zuordnen und Vergleichen geht, dann werden wir sehr viele solche Aufgaben finden. Vor allem gibt es diese in der Verwaltung, im weitesten Sinne in den sogenannten «White Collar»-Jobs. Es geht in erster Linie um Controlling, Accounting, Beschaffung und Supply Chain Management, die industrielle Produktion, Logistik sowie den technischen Teil des Vertriebs. Hier wird KI am heftigsten «zuschlagen», vor allem, wenn die Arbeitsprozesse auch noch vorgegebenen Standardprozeduren folgen (was praktisch überall der Fall ist).

Beim Optimieren und Prognostizieren ist dagegen Vorsicht geboten. Hier sollten wir nicht blind auf die «Intelligenz» von KI-Systemen vertrauen. Die Gründe? KI ist extrem gut im Optimieren von Lösungen. Doch immer auf ein bestimmtes Ziel hin. Oft gibt es aber mehrere Ziele, die erreicht werden sollen und in Einklang miteinander gebracht werden müssen. Manchmal sind diese Ziele auch logisch-mathematischer Natur, ohne direkten Bezug zueinander. Manchmal sind die Umstände zu komplex und die Datenlage ist zu dünn, sodass überhaupt kein Optimum bestimmt werden kann. Dann nützt die beste KI nichts. Und: Die mathematisch-statistisch optimale Lösung muss nicht auch gleich die nachhaltigste und resilienteste Lösung sein. Genau diese Lösungen brauchen wir aber in Unternehmen jetzt und in Zukunft.

Wo der Mensch die Nase vorn hat

Hier ist es umso interessanter, auf die Domänen zu schauen, die wir mit menschlichen Kompetenzen viel besser als jede KI meistern können. Das sind nämlich zum grossen Teil genau die, in denen KI nicht verlässlich oder sogar überfordert ist. Es geht hierbei also nicht um künstliche versus menschliche Intelligenz, sondern vielmehr um die «richtige» Verbindung von beidem. Ich nenne es «AI + AI» – «Artificial Intelligence + Archaic Intelligence». Bei der archaischen Intelligenz reden wir von Kontextverständnis, Kreislaufverständnis, ganzheitlichem Verstehen, Empathie, von situativem Fühlen und Erkennen, von Kreativität und Innovativität. Das sind übrigens alles Dinge, die gerade im HR-Bereich eine enorm wichtige Rolle spielen. Aber eben nicht nur da. Die genannten Kompetenzen sind auch in anderen Unternehmensbereichen entscheidend für passende Lösungen. Und «passend» ist wiederum etwas anderes als «optimiert». Wir reden hier neben HR von Forschung und Entwicklung, den kreativen, kommunikativen und zwischenmenschlichen Bereichen von Marketing und Vertrieb, Key Account Management, strategischen Aufgaben und Tätigkeiten, Nachhaltigkeitsmanagement und der Unternehmens- und Organisationsentwicklung. Hier kommt neben Empathie und Kontextverständnis vor allem einer Kompetenz eine neue Bedeutung zu, die in den letzten Jahrzehnten bei aller Technisierung und Digitalisierung geradezu in Verruf geraten ist: der menschlichen Intuition.

Intuition spielt eine wichtige Rolle

Intuition ist das sofortige, unmittelbare Abrufen von mit Emotionen gekoppeltem Erfahrungswissen in Form von Mustern in unserem menschlichen Gehirn und Körper. Intuition ist also kein Gefühl, auch wenn wir umgangssprachlich eben vom «Bauchgefühl» sprechen. Vielmehr ist es unbewusstes Wissen aus einer Vielzahl von gemachten Erfahrungen, die in dem Moment, in dem sie uns bewusst werden, Gefühle in uns auslösen. Da ist das Erkennen und Wissen aber eben schon geschehen. Die Frage ist dann, ob wir diese Erkenntnis zulassen oder aus Angst oder Überrationalisierung verwerfen. In der aktuellen Unternehmenskultur wird Intuition nicht anerkannt, weil sie nicht rational, logisch und datenbasiert bewiesen werden kann. Daran haben wir uns aber über viele Jahrzehnte als Standard gewöhnt. Die KI in ihrer absoluten Rationalität und mathematischen Logik verstärkt diesen Trend noch.

Dabei funktionieren «Artificial Intelligence» und «Archaic Intelligence» erstaunlich ähnlich. Beide lernen aus Erfahrungen und Beispielen. Beide erzeugen beim Lernen Muster, um das Gelernte zu repräsentieren und zu speichern, die dann zum Erkennen aktiviert oder «getriggert» werden. Weder bei künstlicher Intelligenz noch bei der menschlichen Intuition können wir genau sagen, wie die Prozesse im Detail funktionieren – aber sie funktionieren. Beide sind gut darin, Prognosen über die Zukunft abzugeben. KI in stabilen Umfeldern, Intuition in volatilen Umfeldern. Beide brauchen Training, um korrekt zu arbeiten: das KI-Modell mit Daten, die menschliche Intuition mit repräsentativen Erfahrungen. So wie wir uns bei einem KI-Modell erst dann auf die Ergebnisse und Prognosen verlassen sollten, wenn es mit ausreichend Daten trainiert ist, so sollten wir uns auch nur dann auf menschliche Intuition verlassen, wenn die Person Erfahrung im jeweiligen Themengebiet hat. Ansonsten ist es schlicht ein Raten.

Das bedeutet, dass wir die menschliche Intuition – oder unsere archaische Intelligenz neben künstlicher Intelligenz – als eine wichtige (Führungs-)Kompetenz im KI-Zeitalter verstehen und anerkennen sollten. Unsere menschlichen Fähigkeiten, die keine KI simulieren oder übernehmen kann, funktionieren nur mit und über unsere Intuition. Das liegt daran, dass unser Wissen sozusagen in den Tiefen unseres Gehirns und unseres geistigen und körperlichen Bewusstseins für unseren rationalen Geist unzugänglich abgespeichert ist.

Wie jede andere Kompetenz können und sollten wir unsere Intuitionsfähigkeit trainieren und bilden. Das geht. So wie wir beispielsweise eine Fremdsprache oder ein Musikinstrument erlernen können – und dann immer wieder üben sollten, um die Fähigkeiten nicht wieder zu verlernen. Intuition als Kompetenz anzuerkennen, ist für HR-Profis vielleicht kein übermässig grosser Schritt, denn im Umgang mit Menschen spielen Empathie, ganzheitliches Verstehen sowie Kontextverständnis ohnehin eine sehr grosse Rolle. In anderen Unternehmensbereichen wird dieses neue Verständnis von Intuition als Kompetenz dagegen sicherlich auf Widerstände und Unverständnis stossen. Hier ist es die Aufgabe von HR-Verantwortlichen, für einen gewissen Kulturwandel zu sorgen und die richtigen Führungskräfte zu finden, die offen für neue Skills und Kompetenzen sind und sich auf einen gewissen Paradigmenwechsel einlassen wollen.

Die richtige Mischung macht’s

Der Weg lohnt sich. Wissenschaft und Forschung zeigen eindeutig, dass gemischte Teams aus Mensch und KI überproportional bessere Leistungen und Ergebnisse erzielen. Und dieser Effekt stellt sich schon auf der «mittleren Ebene» ein, ohne dass die Menschen im Team mit KI Expertinnen oder Spezialisten sein müssen. Es reicht, wenn sie eine gute Ahnung und Erfahrung mit der jeweiligen Sache haben. Wichtig ist, dass die Aufgabenteilung nach den oben beschriebenen Aufgaben im Job und in den Domänen richtig gemacht wird. Und dass sich Menschen und KI auf ihre Domänen fokussieren und in diesen weiter trainieren. Mit dem Einzug von künstlicher Intelligenz in alle Jobs und Unternehmen wird also auch und gerade unsere menschliche Intelligenz nicht überflüssig – sondern der entscheidende Schlüssel, um die Tür in eine neue Epoche zu öffnen.

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Andreas Moring

Andreas Moring ist Professor für künstliche Intelligenz (KI) und Nachhaltigkeit an der International School of Management in Hamburg. Er ist zudem Ambassador für Mensch-KI-Kooperation am Artificial Intelligence Center ARIC in Hamburg und Leiter des JuS.TECH-Instituts. ism.de

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