HR Today Nr. 9/2022: Interview über People Analytics

Wie wird People Analytics richtig eingesetzt?

Häufig wollen Firmen das Unmessbare messbar machen, doch fehlt ihnen dafür das Zahlenverständnis. Experte Simon Schafheitle erklärt, was mit People Analytics möglich und sinnvoll ist.

Im HR ist People Analytics ein viel diskutiertes Thema. Sie meinten dagegen, zum Thema gäbe es nichts mehr zu sagen als «People Analytics dreht sich im Kreis». Was heisst das?

Simon Schafheitle: Habe ich das so gesagt? (lacht). Mit «People Analytics dreht sich im Kreis» meinte ich, dass sich in der Diskussion meiner Wahrnehmung nach ein einseitiges und zu negatives Narrativ etabliert hat. People Analytics wird allzu schnell mit schweren Eingriffen in die Privatsphäre assoziiert. Diese Zweifel sind durchaus berechtigt, wir könnten jedoch auch eine positive Grundhaltung dazu einnehmen. Beispielsweise jene eines lebhaften, digitalen Humanismus, der Menschen Vertrauen schenkt, sie aufblühen und sich selbstverwirklichen lässt – mit Technologien und Algorithmen.

Die Rechtslage zu People Analytics ist jedoch häufig unein­deutig, teils kommen sogar widersprüchliche Normen zur Anwendung. Ich persönlich schlussfolgere daraus: Wenn es das Gesetz nicht eindeutig regelt, schlägt die Stunde des wertgeleiteten Ausprobierens. Eine des kontinuierlichen Anpassens, Lernens, Scheiterns und Wiederholens. Das trifft auch den Kern der Funktionsweise von Algorithmen. Die Wissenschaft nennt das «functional creep» und meint damit, dass das volle Funktions- und Anwendungsspektrum von Algorithmen erst durch ihren Einsatz am Arbeitsplatz erleb- und bewertbar wird. Auf dem Prüfstand der Employee Experience könnte ­People Analytics so gleichermassen Wert für das Unternehmen und die Mitarbeitenden schaffen.

Der Experte

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Simon Schafheitle ist Programmverantwortlicher für «Leadership through People Analytics and Trust» an der Executive School der Universität St. Gallen.


Was sind für Sie grundlegende People-Analytics-Fehlannahmen?

Meines Erachtens sind das die folgenden: Erstens ist Korrelation nicht gleich Kausalität, zweitens wird mit People Analytics nicht automatisch alles besser und drittens sind People Analytics viel mehr als nur quantitative Daten und Statistiken. Zur Korrelation und Kausalität ist aus ­meiner Sicht alles gesagt. Ein Beispiel hierfür: Das Vorkommen von Störchen mag mit der Geburtenrate einer Region statistisch zwar zu­sammenhängen (Korrelation), die fehlende Ursache- Wirkungs-Beziehung (Kausalität) ist aber mehr als augenscheinlich.

Warum sollte eine Kausalität von Alter und Geschlecht oder noch schlimmer zwischen ethnischem Hintergrund und Performance-KPIs bestehen? Könnten nicht auch unbeobachtete Drittvariablen einen Einfluss auf einen Zusammenhang haben? Ist die richtige Ursache für ein Problem bekannt oder handelt es sich um eine sogenannte «Reverse Causality»? Beispielsweise, weil das Talent-Management-Programm nicht die Leistung einer Führungskraft beeinflusst, sondern nur High Performer ins Talent-Management-Programm aufgenommen wurden? Dass People Analytics alles richten wird, ist ein weiterer weit verbreiteter Glaube. «Ohne People Analytics bekommen wir nicht die besten Talente», oder «mit People Analytics wird unser Leadership noch effektiver» – diese Aussagen mögen sicherlich richtig sein, die People-Analytics-Forschung zeigt aber auch, dass der Schuss ganz schnell nach hinten losgehen kann – wenn die Privatsphäre, Bias, Zweischneidigkeit der Transparenz und Unternehmensethik ins Spiel kommen.

Letztlich beinhaltet People Analytics auch qualitative Daten, also Interviews oder Beobachtungen. Engagement-Benchmarks, Fragen der Akzeptanz oder Wirksamkeit einer Massnahme können hingegen mit quantitativen Daten und Statistiken beantwortet werden. Oft sieht sich das HR aber auch mit Fragen nach dem Warum konfrontiert. HR will deshalb häufig die Ursachen identifizieren, hat meist aber nicht mehr als ein vages Bauchgefühl. Dann ist es mit quantitativen Daten auf dem Holzweg und muss zuhören, mit Mitarbeitenden oder Führungskräften ins Gespräch kommen und diese Gespräche systematisch auswerten. Zugegebenermassen wird das vielfach unterschätzt und ist aufwendiger, für die HR-Praxis aber überaus relevant.

Braucht es People Analytics in Kleinbetrieben, wo man sich doch persönlich kennt?

Jein! Wenn jeder jeden kennt, erübrigt es sich, den Mittelwert des Job-Engagements zu eruieren. In einzelnen Bereichen mag People Analytics in kleineren Unternehmen dennoch hilfreich sein. Beispielsweise, um Fluktuationszahlen im Branchenvergleich oder die «time to hire» zu eruieren, sodass die Betriebe aus eigenen Datenanalysen lernen und besser werden. Kleinere Unternehmen sollten dafür eher in qualitative People-Analytics-Ansätze investieren, um die Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Mitarbeitenden besser zu verstehen und Managementmassnahmen oder Geschäftsprozesse wirksam anzupassen. Das ist auch für grössere Firmen ratsam. In Unternehmen werden viele unnütze Daten erhoben.

Wie schafft man Abhilfe?

Indem Führungskräfte in kritischem Denken, Mut und ihrer Fürsorgefähigkeit für Mitarbeitende trainiert werden. Kritisches Denken bedeutet, komplexe Herausforderungen der Unternehmenspraxis zu abstrahieren und in Ursache-Wirkungs-Ketten zu übersetzen. Schaffen sie das nicht, können sie erst recht keinen intelligenten Algorithmus trainieren oder Datenanalysen zur Entscheidungsfindung heranziehen. Kritisches Denken bedeutet bei People Analytics aber auch, sich die Frage nach dem Mittel der Wahl zu stellen. Braucht es den Algorithmus, eine neue Software oder können bestehende Daten genutzt werden? Zum Ausprobieren braucht es Mut und eine Haltung sich einzugestehen, dass man auch nicht weiss, ob es am Ende funktioniert. Mut als Haltung heisst also, unbekanntes Terrain zu betreten und vor neuen (unbequemen) Erkenntnissen nicht zurückzuschrecken. Das wiederum bedeutet manchmal, liebgewonnene Erkenntnisse oder eingeübte Praktiken über Bord zu werfen. Und Fürsorge, denke ich, spricht für sich selbst.

Sie fordern, dass mit People Analytics zeitgleich das Recht auf die Privatsphäre der ­Mitarbeitenden thematisiert oder die Datenverwendung offengelegt werden müsste. Inwiefern geschieht das in der Praxis?

Hier beziehe ich mich auf die Ergebnisse der HSG-Befragung «Pulse of People Analytics in Switzerland 2020» . Dafür fragten wir HR-Führungskräfte, inwieweit sie Mitarbeitenden kom- ­mu­nizieren, welche Bereiche ihrer Arbeit und ihres Arbeitsplatzes von People Management Analytics Tools erfasst und analysiert werden. Ausserdem, ob und wie sie die Einwilligung der Mitarbeitenden zur Datenerhebung am Arbeitsplatz einholen. Das Ergebnis: Die Hälfte der Firmen gab an, dass ihre Mitarbeitenden nur geringe Kenntnis darüber besässen, während knapp 10 Prozent berichteten, dass diese über eine grosse Wissensbasis verfügen. Weit über 50 Prozent der Unternehmen erklärten, die Zustimmung zu People Analytics werde über den Arbeitsvertrag geregelt, während gerade mal rund 15 Prozent eine zusätzliche, fallbezogene Einwilligung einholen. Knapp 30 Prozent tun Letzteres nicht. Das aber nur, weil sie diese beispielweise über Gesamtarbeitsverträge regeln.

Was sind für Sie häufige Fehlinterpretationen von People-Analytics-Kennzahlen?
Hier fällt mir der Branchen-Benchmark ein, also der horizontale Vergleich von Mittelwerten einzelner Unternehmen innerhalb einer Branche. Was ich mich frage ist, worin der Erkenntnisgewinn aus einer Differenz von 0,5 zwischen eigenem Engagement-Mittel und jenem der Branche besteht? Wäre es nicht zielführender, Kennzahlen des eigenen Unternehmens über die Zeit hinweg zu vergleichen und eine qualitative Ursachenforschung zu betreiben? Viel diskutiert sind auch Proxies, also Statthaltervariablen. Möchte ich beispielsweise wissen, wie viel Regen fällt, kann ich einen Becher auf die Strasse stellen und den Wasserpegel messen oder stellvertretend das Vorkommen von Regenschirmen zählen. Absenzen und Fehlzeiten sind häufige Proxies im People Management. Dabei sollte immer hinterfragt werden, ob diese valide sind, also inhaltlich zulässige Schlüsse zulassen. Wenn Absenzen Regenschirme eines Unternehmens sind, was ist dann dessen Regen?

Kurz und bündig: Inwiefern hat People Analytics für Sie generell eine Zukunft?

Selbstverständlich hat People Analytics eine Zukunft. Ich hoffe, eine rosige. Als BWLer sehe ich diese darin, mit Entwicklern und Programmierern eine gemeinsame Sprache zu finden – für Umsetzungspraktiken, aber auch hinsichtlich transparenter und intuitiv funktionierender Algorithmen. Vor allem aber sehe ich die Zukunft von People Analytics in der Renaissance des People Management und der HR-Funktion – weg vom «Businesspartner» hin zum «Heart of the Business». Das beinhaltet nicht nur die Einstellung von Data Scientists oder die Delegation von People-Analytics-Aufgaben an die IT. Vielmehr sollte HR als Advokat der Mitarbeitenden die Humanität der Arbeitsplätze im digitalen Zeitalter hochhalten. Digital Literacy und die Fähigkeit, Vertrauen zu schenken, sind dabei zentral. So erschaffen wir eine Zukunft frei nach Carl Zuckmayers Hauptmann von Köpenick: Erst kommt der Mensch und dann People Analytics.

Leadership through People Analytics and Trust

Der Kurs «Leadership through People Analytics and Trust» ist ein Programm der Executive School der Universität St. Gallen. In einem selbstbestimmten Blended-Learning-Ansatz lernen die Teilnehmenden Tools und Techniken kennen, wie People Analytics im Unternehmen eingesetzt und bestehende Daten gewinnbringend verknüpft werden können. Zudem werden Frameworks und Leadership-Instrumente diskutiert, die Vertrauen und Resilienz mit Technologie und Algorithmen effektiv vereinbaren – Stichwort: Digital Literacy. Der nächste Lehrgang startet am 6.10.2022. es.unisg.ch/en/programme/people-analytics

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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