Wissenstransfer

Zwischen Laisser-faire und guten Absichten – HR als Weiterbildungspartner

HR ist wichtiger Partner, um mitarbeitendenzentriertes Lernen zu ermöglichen und den Praxistransfer zu unterstützen. HR sollte dabei auch die versteckten, aber  potenziell wertvollen informellen Lernräume in den Blick nehmen – oder bewusst ausblenden.

Eine Organisation ist kurz davor, die Einführung einer grossen IT-Lösung abzuschliessen, nun müssen die Mitarbeitenden geschult werden. Es gibt neue Pflichtenhefte, Prozessdokumentationen und Schulungsmassnahmen. Die Endanwenderinnen und Endanwender absolvieren Trainings, klicken durch E-Learnings und erhalten Dokumentationen. Nun sind sie umfassend gewappnet und können ihre Arbeit im neuen System bestmöglich ausführen. Wirklich? Denn bald treten neue Fragen auf, das System sieht nach dem Roll-out anders aus, und die Dokumentation erklärt nicht, weshalb die Daten aus der Logistikabteilung nicht wie vorgegeben eingegeben sind. Und jetzt? Die IT-Abteilung verweist auf die Unterlagen, die L&D-Abteilung auf die Schulungsmassnahmen, und der Helpdesk zitiert aus dem Handbuch. Was also tun?

Lernen findet nicht nur in offiziellen Strukturen statt


In unserer Arbeit als tts learning architects bei der Change- und Learning-Begleitung grosser IT-Projekte begegnen uns solche Verhältnisse häufig. Und wir sehen auch: HR-Professionals können wesentlich zum Gelingen solcher Einführungen beitragen – insbesondere durch «Tun» und «Lassen» im informellen Raum. Was meinen wir damit? 

Aus organisationssoziologischer Perspektive ist ein Unternehmen ein soziales System. Dieses besteht aus geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, Ritualen und Geschichten, Cliquen und mikropolitischen Spielen. Hilfreich ist, zwischen formalen und informalen Bereichen der Organisation zu differenzieren. Über alles Formale kann entschieden werden: Stellenbesetzungen, Berichtspflichten, Vorgehensweisen oder geplante Lernmassnahmen. Auf den anderen, informellen Teil der Organisation kann nicht direkt Einfluss genommen werden. Trotzdem ist er unglaublich wichtig, denn hier werden Lösungen für von der Organisation produzierte Widersprüche gefunden: Es setzen sich praktikable Vorgehensweisen gegenüber theoretischen Konstrukten durch. Und er birgt zudem Lerngelegenheiten, die unbedingt be- und gleichzeitig missachtet werden sollten. Doch was bedeutet das konkret? Betrachten wir das anhand eines Fallbeispiels.

Lernbedarf befriedigen – zwischen Tabus und Kaffeepausen-Chancen


Ein Sachbearbeiter schreibt der Logistikabteilung eine Mail, um zu erfahren, wieso sich die von ihm eingegebenen Daten vom dokumentierten Vorgehen unterscheiden. Die Antwort folgt auf dem Fusse, hilft ihm aber nicht weiter: Die Daten im System seien korrekt. Ein paar Tage später äussert er beim Team-Meeting seinen Frust. Dabei erfährt er, dass es anderen Kolleginnen und Kollegen ähnlich geht. Gemeinsam stellen sie fest, dass Fehlerhinweise mit kryptischen Inhalten auftauchen – obwohl sie genau nach den Schulungsunterlagen handeln. Später an der Kaffeemaschine nimmt eine Kollegin den Sachbearbeiter zur Seite: Sie habe einen Tipp. Er erhält von ihr einen Link auf eine OneNote-Seite mit Hinweisen zur Dateneingabe. Diese weichen zwar von den Vorgaben ab, aber siehe da: So funktioniert alles! Einige Monate später erfährt der Sachbearbeiter auf der Firmenfeier auch, wieso die Logistik die Daten nicht vorgabengemäss eingibt: «Wenn wir das System so benutzen würden, wie es uns im Training gezeigt wurde», erklärt ihm ein Kollege schmunzelnd, «würde unser Tagesgeschäft zusammenbrechen. Die Schnittstelle zur Warenannahme ist nicht schnell genug, das System stürzt oft ab. Also nutzen wir ein altes Tool. Also offiziell natürlich nicht …» Der Sachbearbeiter nickt verständnisvoll und ist erleichtert, weil er die Diskrepanz nun besser versteht.

So unterstützt das HR informelles Lernen


Dieses Fallbeispiel illustriert die informale Seite einer Organisation: Im eigenen Team wurden bereits wertvolle Erfahrungen gesammelt. Die vorgegebenen Regeln werden umgestaltet, um «das Tagesgeschäft» überhaupt zu ermöglichen.

Da es sich dabei um einen Regelbruch handelt, erfolgen die Informationen darüber nur mündlich. Eine Kollegin ist eine wichtige Wissensträgerin, obwohl sie formal keine Expertinnen-Rolle innehat. Zudem erleichtern selbst erstellte Dokumentationen den Umgang mit der Software. 

Das sind typische Beispiele für informelles Lernen. Dieses kann nicht – und sollte auch gar nicht – formal gesteuert werden. HR-Professionals können das informelle Lernen sogar entscheidend unterstützen:

Sensibilisierung: Das HR ist der beste Partner, um das Verständnis dafür zu fördern, welchen Bedarf Mitarbeitende über ihre formale Rolle hinaus haben. Wenn das HR nicht nur die formalen, sondern auch die informalen Seiten der Organisation kennt und von deren Wichtigkeit weiss, kann es die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und Stakeholder sensibilisieren, indem es für Verständnis bei Abweichungen von der Formalstruktur wirbt oder indem es den Managerinnen und Managern hilft, die versteckten Mitarbeiterbedürfnisse besser zu erkennen und diesen zu entsprechen.

Möglichkeitsräume eröffnen: Das HR kann auf der formalen Seite Anstrengungen unternehmen oder anregen, mit denen der informelle Lernraum gestützt und gefördert wird. Beispielsweise kann die gewachsene Expertise durch offizielle Anerkennung sichtbar gemacht werden, etwa mit Lern-Badges oder durch das Formalisieren informeller Rollen. Das HR kann sich für Lernzeiten stark machen, die von den Mitarbeitenden selbst gestaltet werden. Es kann durch Empfehlungen, Weiterbildung oder Coachings soziale und agile Lernformate wie Learning Circles oder Communities of Practice initiieren, über die Wissenstragende ansprechbar gemacht werden und informelles Expertenwissen leichter verbreitet wird. Und schliesslich kann das HR Strukturen schaffen, um User Generated Content allgemein zugänglich zu machen und diesen nötigenfalls einer gewissen Qualitätssicherung zu unterziehen.

Wegschauen (helfen): Da Handlungen auf der informalen Seite oft im Widerspruch zu den offiziellen Regeln der Organisation stehen, entwickeln beinahe alle Mitarbeitenden Fähigkeiten, wegzuschauen – es etablieren sich Tabus. Dies ist nötig, um das Funktionieren der Organisation sicherzustellen und sich und andere nicht in die Bredouille zu bringen. Auch das HR kann diese Praxis nutzen und mithelfen, beispielsweise bei der Führungsentwicklung, dass auch andere Stakeholder die Praxis des bewussten Wegschauens adaptieren, um den Mitarbeitenden zu ermöglichen, den notwendigen Lernbedarf durch eigene praktikable Vorgehensweisen zu decken. Zu beachten ist, dass das Regelbrechen oder das bewusste Wegschauen dabei nicht glorifiziert wird, sondern als (temporär) sinnvolle Praxis gesehen wird, deren Anwendung unter dem Radar immer einer gewissen Sensibilität bedarf. In gewissen Kontexten ist das Wegschauen tabu, in anderen kann es funktional die Abläufe sichern, vereinfachen oder erträglich gestalten. Gerade im organisationalen Lernen sollte darüber hinaus beachtet werden, welche informalen Regelbrüche das Potenzial haben, mittel- oder langfristig in formale Lernangebote überführt zu werden. Warum nicht denen die Stimme geben, die wissen, wie es «wirklich» funktioniert?

HR bleibt wichtig(st)er Partner für gelingendes Lernen


Wir stellen fest, dass das HR einer der wichtigsten Partner für die gelingende Einführung grosser IT-Systeme ist. Als Partner der IT, die in solchen Projekten oft federführend ist, kann es formal helfen, den Lernbedarf zu erkennen und die notwendigen Strukturen bereitzustellen. Doch genauso relevant ist der informelle Lernraum. Diese «Lernkultur» lässt sich jedoch nicht direkt beeinflussen, sonst wird sie zur üblichen Policy und ist somit keine Kultur mehr. Aber indirekt lassen sich Strukturen verändern und gegenseitiges Verständnis fördern, was wiederum der Lernkultur zuträglich ist. Mit einem verständnisvollen HRM gelingt dies deutlich einfacher.   

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Johannes Starke ist Product Manager Learning und  Board Member bei  tts learning architects.

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Christoph Huber ist Senior Project Manager bei tts.

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