Arbeitsmarkt im Klimawandel
Viele Erwerbstätige mit einem Berufsabschluss profitieren nicht von den Bildungsförderungsmassnahmen des Bundes und der Kantone. Auch in andere Arbeitnehmergruppen wird wenig investiert. Doch Nichtstun ist keine Option.
Mitarbeitende sollen gehegt und gepflegt werden. Erfolgreiches Personalentwicklung bedingt aber auch eine gewisse Flexibilität der Arbeitnehmenden. (Bild: iStock)
«Wer hat, dem wird gegeben.» Das Matthäus-Zitat kommt auch in der Weiterbildung zur Anwendung, nicht zuletzt in der beruflichen. Ein Blick in die Statistik offenbart, dass Arbeitnehmende, die höher in der Hierarchie angesiedelt sind und einen höheren Bildungsgrad haben, stärker von Unternehmen gefördert werden als solche in tieferen Stellungen und niedrigerem Bildungsniveau. Einblicke in Unternehmen unterstreichen diesen Befund und Aussagen von HR-Verantwortlichen belegen es: Es gibt Arbeitnehmergruppen in Unternehmen, die praktisch nie mit einer Weiterbildung gefördert werden.
Verschiedene Studien gehen davon aus, dass der Arbeitsmarkt in nächster Zeit radikal umgeschichtet wird. Eine Vielzahl von Jobs, die relativ einfache kognitive Fähigkeiten erfordern oder körperliche und manuelle Fertigkeiten voraussetzen, sollen verschwinden. Derweil werden neue Stellen geschaffen, in denen soziale, emotionale und technologische Kompetenzen gefragt sind. Auslöser für den Wandel ist natürlich die digitale Transformation.
Das wird nicht von einem Tag auf den andern passieren, sondern schrittweise. Darin liegen vielleicht Fluch und Segen zugleich. Segen deshalb, weil ein sukzessiver Wandel die Chance bietet, potenziell betroffene Arbeitnehmende auf dem Weg in die Digitalisierung mitzunehmen. Fluch, weil wohl der Druck für die Unternehmen, in die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden zu investieren, zumindest für den Augenblick nicht so schwer lastet. Hier sei ein Vergleich mit dem Klimawandel gestattet: Nichtstun bringt das Problem nicht zum Verschwinden, es verschlimmert es nur.
Analoge Berufe werden digitaler
Hinlänglich klar ist, dass die digitale Transformation alle Branchen und alle Tätigkeiten erfassen wird. Künstliche Intelligenz macht vor keiner Backstube und keiner Schreinerei Halt. Selbst auf dem Bau verändert sie die Tätigkeiten. Einen klassischen Maurer wird es zweifellos noch eine Weile brauchen. Doch auch er muss heute mit digitalen Messinstrumenten hantieren können und Arbeitsabläufe in digitalen Protokollen festhalten. Genauso wie eine Pflegerin im Spital, die ohne ein Mindestmass an digitaler Literalität ihre Patienten nicht mehr wird versorgen können.
Einsatzpläne, Sicherheitsprotokolle, die Bedienung von Robotern oder die komplexere Kommunikation mit Vorgesetzten oder Arbeitspartnern setzen mindestens Basiskenntnisse in der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) voraus, ganz zu schweigen von Sprach- und Kommunikationskompetenzen. Das legt eine Förderung in einem umfassenderen Sinn nahe.
Die Förderstrukturen des Bundes und der Kantone scheinen dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, fokussieren sie doch in erster Linie auf Personen mit geringen Grundkompetenzen: Diese umfassen nicht nur Lese- und Schreib-, sondern auch IKT-Kenntnisse. Konkret heisst das, dass den Kantonen zwischen 2017 und 2020 rund 15 Millionen Franken des Bundes zur Verfügung stehen, um Massnahmen zu ergreifen, die zur Verbesserung der Grundkompetenzen beitragen. Dieses Geld erhalten die Kantone aber nur dann, wenn sie ebenfalls Geld in die Hand nehmen.
Ernüchternde Förderungsbilanz
Eine erste Bilanz der Kantonsaktivitäten durch die Interessengemeinschaft Grundkompetenzen, der 21 Verbände und Organisationen – darunter der SVEB – angehören, fiel 2018 ernüchternd aus. Nur wenige Kantone haben die Strukturen zur Förderung von Grundkompetenzen effektiv ausgebaut. Bei den Betroffenen selbst kam relativ wenig an. Natürlich lässt sich das auch auf Anlaufschwierigkeiten zurückführen. Tatsächlich dürften die finanziellen Anreize gerade in den kleinen Kantonen zu gering gewesen sein. Die Förderung wird über 2020 weitergeführt, wobei eine deutliche Mittelerhöhung in Aussicht steht. Das ist ein positives Signal.
Ebenfalls auf geringqualifizierte Personen zielt das Programm des Bundes «Einfach besser!... am Arbeitsplatz», das 2018 initiiert wurde. Es unterstützt Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden Weiterbildungskurse zur Stärkung ihrer arbeitsplatzbezogenen Grundkompetenzen anbieten. Ein grosser Teil der Kurse widmete sich der Verbesserung der Sprachkompetenzen in Verbindung mit Lesen und Schreiben. Beinahe ebenso stark nachgefragt wurden Kurse im Zusammenhang mit IKT-Grundkompetenzen. Bis heute haben rund 2000 Personen davon profitiert. Auch dieser Förderschwerpunkt soll bis 2024 fortgeführt werden.
Falsch verstandener Sparwille
Das zuständige Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) wertet die ersten Resultate als erfolgreichen Start. Das kann man gelten lassen. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass ein deutliches Ungleichgewicht unter den Kantonen herrscht. Von den bis heute rund 60 eingereichten Projekten stammten 24 allein aus dem Kanton Tessin. Das spricht für eine gewisse Zufälligkeit, was die Nachfrage betrifft. Oder anders formuliert: Das Programm ist noch nicht hinlänglich bekannt. Will man es zum Erfolg führen, muss auch eine entsprechende Informationskampagne mit den Unternehmen als Zielgruppe durchgeführt werden.
Fördermassnahmen für Geringqualifizierte sind sinnvoll und nötig. Das steht ausser Frage. Dabei geht jedoch vergessen, dass ein grosser Teil der Arbeitnehmenden mit Berufsabschluss keinerlei berufliche Weiterbildung betreibt. Wie aus dem Bildungsbericht 2018 der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung hervorgeht, haben im beobachteten Zeitraum 40 Prozent der Erwerbspersonen im Laufe eines Jahres weder an Kursen, Workshops und Seminaren, noch an Konferenzen oder einer On-the-Job-Schulung teilgenommen. Spricht man bei den Geringqualifizierten von circa 230 000 Personen in der Schweiz, umfasst diese Gruppe der Erwerbstätigen rund 900 000 Personen.
Das ist volkswirtschaftlich eine andere Dimension. Doch wie die Geringqualifizierten ohne Aus- oder Weiterbildung laufen auch die Berufstätigen mit Berufsabschluss in Zeiten der Transformation Gefahr, abgehängt zu werden. Darauf zu vertrauen, dass Unternehmen stärker in die Weiterbildung dieser Gruppe investieren, ist aufgrund der Vergangenheit ebenso wenig anzunehmen, wie ein stärkeres Engagement der Arbeitnehmenden, für ihre eigene Entwicklung zu sorgen. Das im Weiterbildungsgesetz hochgehaltene Prinzip der Eigenverantwortung versagt in der beruflichen Weiterbildung.
Kostenlose Standortbestimmungen
In jüngster Zeit sind in Bern mehrere parlamentarische Vorstösse eingereicht worden, die auf eine breitere Förderung der Weiterbildung im Lichte der Digitalisierung abzielen. Der Bundesrat hat sie unter anderem mit Verweis auf die oben beschriebenen Massnahmen im Bereich der Grundkompetenzen abgeschmettert. Doch aufgrund der Entwicklung in der Weiterbildungsbeteiligung, der fehlenden Unterstützung durch die Arbeitgeber und der sich beschleunigenden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt kann eine solche Haltung zum Versäumnis werden, welche die Probleme gravierender werden lässt.
Die Felder, auf denen ein stärkeres Engagement der Politik erforderlich wären, sind längst identifiziert: So geht es zunächst einmal um Information und Beratung. Hier sind bereits erste Massnahmen eingeleitet worden: Mit der Strategie Berufsbildung 2030 soll die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung gestärkt und für Erwachsene zugänglicher gemacht werden. Am 15. Mai 2019 hat der Bundesrat zudem mehrere Initiativen für ältere Arbeitnehmende beschlossen. Unter anderem sollen diese eine kostenlose Standortbestimmung, Potenzialanalyse und Laufbahnberatung für Personen ab 40 Jahren ermöglichen. Damit Information und Beratung tatsächlich in Anspruch genommen werden, dürfte ein passives Angebot nicht ausreichen, weil viele Arbeitnehmende die Notwendigkeit einer Weiterbildung nicht sehen, solange ihre Situation nicht gefährdet scheint. Eine aufsuchende, sozusagen präventive Beratung wäre wohl ins Auge zu fassen.
Doch dazu müssen die entsprechenden erwachsenengerechten Weiterbildungsangebote auch zur Verfügung stehen. Ein Ausbau und vor allem eine Systematisierung dieser Weiterbildungsangebote ist dringend angezeigt. Und nicht zuletzt geht es um die Finanzierung und die finanziellen Anreize für Betriebe und Berufstätige, mehr in die Weiterbildung zu stecken. Die nächste BFI-Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation, die im laufenden Jahr im Parlament beraten wird und bei der es um die Mittelverteilung im Bildungssektor geht, könnte eine Chance bieten, die Weichen in die richtige Richtung zu stellen.