«Das beste Pferd im Stall gehen lassen»
Intern vielseitig einsetzbare Mitarbeitende können dem sogenannten Fachkräftemangel durchaus entgegenwirken. Wie sich das bewerkstelligen lässt – darüber haben wir mit Swisscom, der Baloise und der Unternehmensberatung Dot Consulting AG gesprochen.
Mitarbeitende sollen gehegt und gepflegt werden. Erfolgreiches Personalentwicklung bedingt aber auch eine gewisse Flexibilität der Arbeitnehmenden. (Bild: iStock)
Offenheit, Neugierde, Mut: drei Substantive, die für Corinna Fröschke, Content Specialist Group HR bei der Baloise, Julien Hautle, Future Workforce Management bei Swisscom, und Oliver Gabor, geschäftsführender Partner und Gründer der Unternehmensberatung Dot Consulting AG, einen intern mobilen Menschen auszeichnen. Ob sich für jemanden interne berufliche Chancen ergeben, werde jedoch oft durch dessen Vernetzung beeinflusst. «Das ‹Gärtlidenken› hat ausgedient», betonen Oliver Gabor und Julien Hautle.
Unternehmerisches Denken, Lernwille und persönliche Flexibilität sind weitere Eigenschaften, die das unternehmensinterne Fortkommen fördern, finden Fröschke, Hautle und Gabor. Fehle Letztere jedoch, gestalte sich die interne Mobilität schwierig, meint Hautle. «Wer aus familiären Gründen an einen bestimmten Wohnort gebunden ist oder eine konstante Lohnsumme benötigt, kann intern und extern weniger frei darüber entscheiden, ob er ein neues Jobangebot annimmt.»
Die Komfortzone verlassen
Um die interne Mobilität voranzutreiben, verwenden Swisscom, die Baloise und die Dot Consulting AG unterschiedliche Ansätze. «Wir fördern temporäre interne Jobwechsel», umschreibt Corinna Fröschke das Mobilitätskonzept der Baloise. Etwa mit «Shadow for a day», einem Programm, bei dem Mitarbeitende mindestens einen Tag in andere Bereiche oder in ein anderes Team wechseln, um den Kollegen bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Daneben bietet der Versicherer den Beschäftigten mit einem «Perspektivenwechsel» die Möglichkeit, für einen Monat bis zu zwei Jahren andere Aufgaben zu übernehmen.
Obschon diese mit den ursprünglichen Funktionen häufig nicht viel zu tun haben, bringen sie den Mitarbeitenden und dem Unternehmen viele Vorteile: «Arbeitnehmende lernen andere Arbeitsweisen und Teamdynamiken kennen und können ihr Skillset erweitern. Sie müssen hierzu ihre Komfortzone verlassen, sich neues Wissen aneignen und Verantwortung in ihnen fremden Bereichen übernehmen.» Das führe dazu, dass sie Bestehendes öfters hinterfragen, sich insgesamt breiter qualifizieren und souveräner mit neuen Situationen umgehen.
Beim Beratungsunternehmen Dot Consulting AG setzt man dagegen darauf, dass «alle alles können» und die Mitarbeitenden ein ganzheitliches Verständnis für die Geschäftstätigkeit entwickeln. «Bei uns kann jeder Offerten, Rechnungen und Zahlungen abwickeln oder Änderungen auf der Website durchführen», sagt Oliver Gabor. Dafür haben die Mitarbeitenden auf fast alle Systeme vollen Zugriff. Statt dieses pragmatischen Hands-on-Ansatzes nutzt Swisscom zur Förderung der internen Mobilität seit Sommer 2019 eine innovative Software: Mitarbeitende erfassen damit ihre Kompetenzen und beantworten Fragen zu ihren persönlichen Eigenschaften.
Sind die Daten einmal eingegeben, berechnet die Software aufgrund aktueller und historischer Daten des Schweizer Stellenmarkts, wie es um die Arbeitsmarktfähigkeit des jeweiligen Mitarbeitenden bestellt ist, und schlägt passende Folgejobs vor: «Mitarbeitende erkennen, welche Kompetenzen sie für die vorgeschlagene neue Rolle bereits besitzen und welche Skills ihnen noch fehlen», erklärt Julien Hautle. Basierend auf diesen Auswertungen erhalten Mitarbeitende neben Vorschlägen zum Arbeitsmarkt auch Empfehlungen zu internen Jobs und passenden Lernangeboten. Mit dem digitalen Tool sei es zudem gelungen, Hemmschwellen abzubauen, die eine physische Standortbestimmung mit sich bringe: «Mitarbeitende können die Software nutzen, ohne ihrem Vorgesetzten zu signalisieren, dass sie in ihrer aktuellen Rolle unzufrieden sind.»
Risiken und positive Nebenwirkungen
Zugegeben, Führungskräfte können durch solche Programme ihr «bestes Pferd im Stall» verlieren. Doch das gehört für Corinna Fröschke bei der Personalentwicklung dazu. «Niemand bleibt von der Lehre bis zur Pension an derselben Stelle.» Auch Swisscom plädiert dafür, Mitarbeitende ihres Weges ziehen zu lassen: «Nicht zuletzt ist auch das beste Pferd im Stall einmal demotiviert, wenn es sich nicht entwickeln und an neuen Herausforderungen wachsen kann», sagt Julien Hautle. «Team-Treue und Jobzufriedenheit lassen sich nicht verordnen.»
Um Mitarbeitende zu halten, müsse eine Führungskraft Sinn vermitteln, eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens schaffen und sie entlang ihrer Stärken einsetzen. «Wer so handelt, versteht, dass sich Mitarbeitende entwickeln wollen, und schafft hierzu geeignete Möglichkeiten.» Für Corinna Fröschke steht das «Loslassen» dabei im Zentrum. «Nimmt ein Mitarbeitender am ‹Perspektivenwechsel› teil, fehlt er in seinem ursprünglichen Team für eine gewisse Zeit. Aber es ist planbar und rechtzeitige Absprachen helfen, die Arbeit neu zu verteilen. Zudem kann ein temporärer Wechsel in einen permanenten Wechsel umschlagen.» Nicht jeder Führungskraft, aber auch nicht jedem Team falle der Umgang mit diesen Veränderungen in der Zusammenarbeit leicht. «Dazu müssen alle Beteiligten einen gewissen Reifegrad haben.»
Den Beschäftigten den Sinn und Zweck der internen Mobilität zu vermitteln, benötigt Ausdauer: «Es braucht eine permanente Kommunikation rund um die Angebote, welche die interne Mobilität fördern», sagt Corinna Fröschke. Besonders wichtig sei es, Vorbilder zu haben. Berichte der Baloise-Karriere-Blog etwa über Kolleginnen oder Kollegen, die einen «Perspektivenwechsel» gemacht haben, «ist das die beste Werbung oder der beste Mutmacher für andere Mitarbeitende».
Erfolgsgeschichten wie die von Praxisausbilder Dominik Steinwarz, der seinen Posten als Ausbilder im Lernenden-Team des Versicherers für sechs Monate gegen eine Teamleitung im Kundenservice ausgetauscht hat, gibt es nicht nur bei der Baloise, sondern auch bei der Swisscom: Etwa jener Mitarbeiterin, die sich innert zehn Jahren vom Trainee zur Kommunikationsmitarbeiterin entwickelt, zur Sales-Strategy-Managerin ernannt wird, in Basel ein neues Shop-Konzept lanciert und heute als Shop-Leiterin innerhalb einer Jobrotation während zwölf Monaten in Bern Erfahrungen an der Front und in der Personalführung sammelt.
Geteilte Verantwortung
«Grundsätzlich gibt es immer weniger klassische Karrierepfade. Entwicklung ist deshalb nötiger denn je, gleichzeitig aber auch so individuell, dass diese nicht mehr nach dem Giesskannenprinzip gestaltet werden kann», sagt Hautle. Bei der Entwicklung der Swisscom-Mitarbeitenden spreche man deshalb von einer geteilten Verantwortung. «Wir schaffen die nötigen Voraussetzungen, die Weiterbildung und Jobmobilität ermöglichen. Für ihre Entwicklung sind die Mitarbeitenden aber selbst verantwortlich. Sie müssen den ersten Schritt machen.» Zur Veränderung gezwungen werden könne bei einem so persönlichen Thema niemand. «Passive Mitarbeitende müssen sich aber der Gefahr bewusst sein, dass sie mit der Zeit als Fachperson nicht mehr gefragt sind und veraltete Kompetenzen im Unternehmen nicht mehr benötigt werden.»
Auch bei der Baloise setzt man auf die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden und glaubt nicht an Top-down-Vorgaben: «Wir verbreiten lieber viral unsere Werte und Ideale – und leben diese vor.» Überzeugungsarbeit ist bei der Dot Consulting AG nicht vonnöten: «Interne Mobilität ist ein Teil unserer DNA. Das sprechen wir schon im Recruiting-Prozess an. Wir haben zudem flache Hierarchien und keine klassischen Vorgesetzten. Services, Methoden und Prozesse entwickeln und dokumentieren wir gemeinsam, Ausbildungen absolvieren wir oft unter Peers oder in Gruppen.» Die Freiheit, überall mitwirken zu können, bedeute aber nicht nur, dass Mitarbeitende alle Rechte besitzen, sondern auch, dass sie Verantwortung für ihr Handeln in Sachen Beschäftigungs- und Arbeitsmarktfähigkeit übernehmen müssen.
Nicht immer geht dies reibungslos vonstatten, denn den persönlichen Entwicklungsbemühungen stehen oft strukturelle Hindernisse im Unternehmen entgegen. Beispielsweise, wenn die Übersicht fehlt. «Mitarbeitende müssen über Weiterbildungsangebote, Vernetzungsmöglichkeiten und Vakanzen informiert sein und einen einfachen Zugang zu diesen Informationen haben», betont Julien Hautle.
Intern mobil zu sein, hat auch Nachteile. Etwa, weil Mitarbeitende ihre Aufgabengebiete rasch wechseln, Kunden mit verschiedenen Ansprechpartnern konfrontiert sind und der Einarbeitungsaufwand steigt. Bei der Dot Consulting AG kein unbekanntes Szenario: «Es kommt vor, dass mehrere Mitarbeitende ein Thema gleichzeitig aufgreifen, ohne sich abzusprechen, oder gegensätzliche Meinungen vorherrschen. Viele möchten mitreden, ohne die Konsequenzen zu tragen. Das hemmt das Unternehmen, Entscheide schnell umzusetzen.» Um dagegen anzukämpfen, führt Oliver Gabor viele Einzelgespräche und veranstaltet Teambuilding-Massnahmen. «Das ist notwendig, weil wir räumlich verteilt arbeiten und die digitalen Kanäle den zwischenmenschlichen Austausch nicht ersetzen.»
Für Corinna Fröschke dagegen ein unwahrscheinliches Szenario: «Nur ein kleiner Teil der Baloise-Belegschaft will immer wieder wechseln. Meist ist es so, dass jemand intern wechselt und dann merkt: «Hier bleibe ich. Gut, dass ich was Neues ausprobiert habe.» Oder: «Jetzt weiss ich, was ich an meinem alten Job so toll fand. Ich geh zurück.» Über ein «Zuviel» an interner Mobilität könne sie nicht berichten. Auch bei Swisscom ist man noch weit von einem solchen Szenario entfernt, findet Julien Hautle. «Mitarbeitende arbeiten gern in ihrem gewohnten Umfeld. Es fällt ihnen oft schwer, die Komfortzone zu verlassen.»
Julien Hautle
Image «Mitarbeitende müssen über Weiterbildungsangebote, Vernetzungsmöglichkeiten und Vakanzen informiert sein.»
Julien Hautle, Future Workforce Management bei Swisscom
Corinna Fröschke
Image «Es braucht eine permanente Kommunikation rund um die Angebote, welche die interne Mobilität fördern.»
Corinna Fröschke, Content Specialist Group HR bei der Baloise
Oliver Gabor
Image «Interne Mobilität ist ein Teil unserer DNA. Das sprechen wir schon im Recruiting-Prozess an.»
Oliver Gabor, Geschäftsführender Partner und Gründer der Unternehmensberatung Dot Consulting AG