HR Today Nr. 5/2022: HR FESTIVAL europe

«Artgerechte Haltung» von Top-Leuten

Ein Plädoyer dafür, dass Unternehmen sich ohne Hierarchiebrille im Spiegel ansehen und erkennen, dass nur wenige Top-Professionals die eigentlichen Kernleistungen erbringen, und wie diese gewürdigt werden sollten.

Der Arbeitsmarkt schlägt um. Selbst beliebte Unternehmen können sich nicht mehr die besten Bewerbenden herauspicken – so komfortabel haben es heute nur noch Immobilienmakler, wenn sie Kandidaten eine schicke Wohnung in Ballungsgebieten anbieten. Sind Arbeitsstellen dagegen knapp, diktieren Unternehmen die Anstellungsbedingungen. Sie fordern vom Bewerbenden «Employability» oder «Sieh zu, dass du kannst, was wir brauchen, sonst eben nicht». Jetzt, wo der Markt dreht, sitzen die Bewerbenden am längeren Hebel: «Bietet mir was, damit ich euch in Erwägung ziehe.» Nun kommt es weniger auf die Employability des Bewerbenden an, sondern – so nenne ich es – auf die Recruitability des nach Fachkräften suchenden Unternehmens. Originalton, neulich gehört aus dem Niedriglohnbereich: «Die Mindestqualifikation ist heute, dass man acht Stunden an einem Arbeitsplatz sitzen kann, ohne vom Stuhl zu fallen.»

Warum Recruitability so wichtig wird

Der Arbeitsmarkt gabelt sich im Zuge der Digitalisierung. Immer mehr Service-Arbeitsplätze werden erst mcdonaldisiert und dann automatisiert. Deshalb können viele Jobs in diesem Bereich mit immer weniger Qualifikationen ausgeführt werden. Sie werden so schlecht bezahlt, dass Arbeitnehmende in prekäre Verhältnisse rutschen. Die Mittelschicht, so sagt man, verschwindet. Aber die Berufe und Tätigkeiten, die «ein Computer unterstützen kann, aber nicht entfernt selbst auszuführen vermag», verlangen eine entsprechend hohe Qualifikation – tendenziell eine immer höhere, weil die Digitalisierung fortschreitet. Um diese hohen Mitarbeitendenqualifikationen rangeln nun die vielen Unternehmen. Sie beginnen sich zu fragen: «Sind wir attraktiv genug?»

Es ist evident, dass Top-Leute in Top-Berufen fünf- bis zehnmal besser sind als mässige. Dafür gibt es seit langem Studien – für Ungläubige. Im Vertrieb ist es am leichtesten zu verifizieren: Wer verkauft am meisten? Für Manager-Jobs kursieren Vermutungen wie «20-mal besser», bei Schriftstellern und Wissenschaftlern könnte das Leistungsverhältnis zwischen «Kann schreiben und Bestsellerautor» oder zwischen «Doktorand und bekannter Forscher» weitaus krasser ausfallen. Damit bedeutet Recruitability nicht, bei dünnem Bewerberangebot die vorhandenen Stellen zu besetzen, sondern vor allem, Top-Leute anzuziehen.

Top-Leute, etwa aus der IT, leisten oft so viel, dass ihnen nicht mehr rational erklärt werden kann, weshalb sie weniger verdienen als ihr Chef, dessen Beruf durch die Digitalisierung langsam den Weg der McDonaldisierung antritt (lesen Sie dazu Dilbert-Cartoons). «Excel kann ein Computer besser; Zahlenanalyse per AI ist genauer; mutige Entscheidungen trifft kaum noch jemand, wenn es wegen der Prozesse überhaupt noch erlaubt ist.» Immer noch hört man in sehr grossen Konzernen aber: «Herr Chefingenieur, wenn Sie hier Geld verdienen wollen, müssen Sie die Managementlaufbahn einschlagen.» Warum ändert man das nicht, fragte ich oft mit Verweis auf Google. «Stimmt, die zahlen sehr viel. Solche Gehälter können wir in unserem hierarchisch geordneten Pyramidenverständnis aber nicht abbilden. Unsere Führungskräfte sehen ausserdem nicht ein, weshalb ihre Mitarbeitenden mehr verdienen sollten als sie.» Ich kontere: «In einem Ärztehaus haben die Ärzte schöne Eckzimmer. Für das Management halten sie sich einen Verwaltungsleiter, der innen am Aufzug residiert. Geht es nicht auch so?» Augenrollen.

Das ist überspitzt, damit ich folgenden Punkt landen kann: Im Umgang mit Top-Professionals stimmt die gewohnte Unternehmenskultur nicht mehr. Viele Unternehmen fragen mich: «Warum sind Start-ups so erfolgreich? Technisch gesehen können wir alles besser, aber wir schaffen es nicht, es umzusetzen.» Ich versuche dann zu vermitteln, dass sich ihre Unternehmenskultur ändern muss.

Ein Unternehmen muss sich ohne Hierarchiebrille im Spiegel ansehen und erkennen, dass nur wenige Top-Professionals die eigentlichen Kernleistungen erbringen. Deshalb müssen die Kompensationsstrukturen eines Unternehmens erlauben, dass sich Top-Professionals gewürdigt fühlen. Dass die Unternehmenskultur dazu der grosse Differentiator sein wird, predigen HR-Abteilungen schon seit Jahren und Jahrzehnten. In dieser Zukunft sind wir nun angekommen.

Bündelung der Argumente

Das Einstellen von Top-Professionals wird zum entscheidenden Flaschenhals vieler Unternehmen. Sie haben sich für Unsummen modernen Beschaffungsprozessen verschrieben, um alles billig zu bekommen. Bei Professionals geht es aber um Qualität. Einkauf, Pflege, Entwicklung und Retention von Top-Leuten mutiert zu einem neuen Kernprozess im Unternehmen. Die Karrierepfade müssen neu gestaltet, das Verhältnis der Professionals zu den Führungskräften muss neu verstanden werden. Ist der Leistungsunterschied zwischen Professionals und ihren Chefs so «irre» gross, lohnen sich Ausgaben für deren monatelange Entwicklung – aber bitte nicht per Workshop durchs HR, sondern eher mit Wild Cards für Top-Kongresse. Beispielsweise in Barcelona oder Las Vegas. Top-Leute brauchen keine Schulungen durch mittelmässige Trainer, sondern Inspiration, damit sie sich anschliessend in vielen Nächten mit einem neuen Hobby vertraut machen. Kurz: Die Unternehmenskultur muss sich auf «artgerechte Haltung» von Top-Leuten verstehen.

HR seufzt: «Wer bezahlt das alles?» Hallo? Top-Leute sind zehnmal besser, bekommen aber nicht zehnmal mehr Gehalt. Wo ist das Problem? HR zweifelt: «Wir brauchen auch stinknormale Leute. Es kann nicht nur Ober-*** geben.» Echt? Im Vertrieb solche, die weniger verkaufen? In der IT welche, die durch Fehler ganze Projekte schreddern? Warum dauern Projekte immer doppelt so lange und kosten dreimal so viel? Darf ich jetzt einmal den empfindlichsten Punkt des Ganzen ansprechen und subversiv fragen?

Ist das HR-Department höchstselbst schon so weit, professionell «zehnmal mehr» zu bringen? Ich gebe ein paar Punkte zu bedenken:

  • Merken HR-Leute überhaupt, welche Leute top sind? Ist HR der Gesprächspartner bei ihrer Auswahl? An den Eliteuniversitäten kursiert der Spruch «First class hires first class, second class hires third class.» Zweitklassige stellen in Hauptverwaltungen nach Regeln und Richtlinien ein, mit denen sich das Erstklassige aber nicht greifen lässt. Gerade die Existenz vieler Formulare zeigt, dass keine professionellen Talent Scouts für lebensnotwendigen Personalnachschub sorgen.
  • Bewirbt sich ein Top-Kandidat bei einem Unternehmen, checkt man gewöhnlich, ob er noch am gleichen Tag im notleidenden Projekt einspringen kann, für das seine Stelle genehmigt wurde. Seine Einstellung soll eine konkrete Lücke schliessen. Deshalb nimmt man lieber einen Zweiklassigen, der sofort anpacken kann. In dieser Weise löst HR aber nur akute Probleme. Top-Leute kommen so nur zufällig. «Na gut, ich komme. Wissen Sie, meine Familie lebt hier, deshalb.»
  • Viele Grossunternehmen stellen Mitarbeitende ein, die implizit Klone der Hauptverwaltungsmitarbeiter sind. Ich habe früher einmal Stellenanzeigen analysiert und mich gefragt, welches Myers-Briggs-Typen­indikator (MBTI)-Testresultat der darauf passende Mitarbeitende hätte. Ergebnis: Unbewusst werden die Typen ISTJ (zuverlässig, genau, analytisch, extrem gut in Planung, kostenbewusst) oder ESTJ (forsch, engagiert, unermüdlich im Einsatz, kommunikativ, anspornend) gesucht. So aber sind die Ingenieure nicht und die Nerds ganz bestimmt nicht.
  • Viele Grossunternehmen verkünden geradezu grossmäulig, «3000 IT-Fachkräfte» einzustellen, um beispielsweise Stromnetze zu managen oder selbstfahrende Autos zu bauen. Sollte man nicht besser 50 Top-Leute von Google abwerben (Kosten zweitrangig) und sie dann «First class hires first class» betreiben lassen?
  • Die Bewerbungsprozesse vieler Unternehmen sind «unter aller Kanone», schon weil sie sich lange hinziehen. Hat ein Top-Bewerber schneller Angebote kleiner Firmen, kommt er nicht mehr zum Vorstellungsgespräch – und wenn doch, wird er teurer. Interessiert das Second-Class-HR-Abteilungen?

Im Profifussball oder in Harvard werden HRler gesteinigt, wenn die eingekauften Spieler oder Professoren nicht leisten. Rekrutierung ist ein HR-Kernprozess. Die Verantwortlichen sind verantwortlich für die First-Class-Versorgung. Recruitability ist King. Wie ist das bei Ihnen?

Zur Person

Der Philosoph, Autor, Mathematikprofessor und Business Angel Gunter Dueck ist ehemaliger CTO der IBM Deutschland und einer der bekanntesten Vordenker im deutschsprachigen Raum. Nach seiner Karriere als Mathematikprofessor arbeitete er 25 Jahre bei IBM an Strategie, Cultural Change und der Gründung neuer Geschäftsfelder (Business Intelligence, Cloud Computing). Zuletzt war er Chief Technology Officer von IBM Deutschland. Dueck ist hochdekorierter Wissenschaftler, Fellow des amerikanischen Ingenieursverbands IEEE und Fellow der Gesellschaft für Informatik. Dueck ist zudem Bestsellerautor zahlreicher satirisch-philosophischer Bücher über die Zukunft von Arbeit, Management, Bildung und Innovationen. Zuletzt erschienen sind «Das Neue und seine Feinde» und «Schwarmdumm». Gunter Dueck – auch «Wild Dueck» genannt – gilt als Vor- und Nachdenker, hält uns Menschen und Unternehmen schonungslos den Spiegel vor und kämpft für Innovation und Vorfreude auf das digitale Zeitalter.

 

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Gunter Dueck ist Philosoph, Schriftsteller, Business Angel, Mathematikprofessor, ehemaliger CTO der IBM Deutschland und einer der bekanntesten Vordenker im deutschsprachigen Raum.

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