Next Level Active Sourcing
Ein Grossteil der erwerbstätigen Bevölkerung ist in irgendeiner Form online auffindbar. Wer es nicht ist, wirkt suspekt. Macht das die Talentsuche einfacher? Nur bedingt, denn Talente ansprechen kann jeder. Um bei Fachkräften auf Gehör zu stossen, wird es für einzelne Unternehmen deshalb schwieriger, da der Talentmarkt nicht grösser, sondern kompetitiver wird.
«Beziehungen bei der Personalbeschaffung sind immer noch die beste Methode, Spitzenkandidaten zu finden», ist Raphael Ineichen überzeugt. (Bild: iStock)
Active Sourcing ist die spezifische, proaktive Recherche, Ansprache und Rekrutierung potenzieller Mitarbeitender, um eine Stelle zu besetzen. Das «Active» steht dabei nicht für den Akt des aktiven Suchens, oder haben Sie Ihren Schlüssel schon mal passiv gesucht und dann gefunden? Suchen ist per se eine aktive Handlung, weshalb ein Inserat schalten streng genommen nichts mit Suchen zu tun hat. «Wir haben ja gesucht, aber niemanden gefunden», ist deshalb keine Ausrede. Das Active steht viel mehr für die aktiven Elemente, die nach dem Sourcing passieren müssen. Das Eine führt ohne das Andere zu gar nichts. Aber eins nach dem anderen.
Entwicklung des Sourcings
Sourcing beginnt lange vor der Personalbeschaffung. Es geht darum, qualifizierte Personen zu identifizieren, die über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um eine offene Stelle zu besetzen. Unabhängig davon, ob diese Menschen sich derzeit beruflich verändern möchten oder nicht. Um ein möglichst komplettes Bild eines Kandidaten zu erhalten, berücksichtigen professionelle Sourcer bei ihrer Suche mehrere Quellen und konsolidieren diese Informationen anschliessend. Sie recherchieren dabei auch Kontaktdaten wie E-Mail oder Telefonnummern, sonst wird die Kontaktaufnahme schwierig. Sourcer nutzen dazu Methoden, die an nachrichtendienstliche Tätigkeiten erinnern. Darüber hinaus sind für diese oft unterschätze Aufgabe Urteilsvermögen, Kreativität, Analysen, Mustererkennung und gesunder Menschenverstand gefragt.
Diesem Teil des Active Sourcings wurde in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Jeder Recruiter sollte zu einem «Sourcing Ninja» ausgebildet werden, der Boolean Strings, X-Ray-Search und OSINT-Techniken draufhat. Daraus ist eine ganze Industrie mit Kongressen wie SourceCon entstanden, die sich dem Sourcing widmen.
Aktiv werden
Sobald Sie (oder das Sourcing) potenziell qualifizierte Kandidatinnen und Kandidaten identifiziert haben, ist es an der Zeit, mit diesen in Kontakt treten. Das hat viel mit Verkaufen zu tun. Recruiter «verkaufen» ihr Unternehmen, beziehungsweise den Arbeitgebenden. Sie verkaufen oder überzeugen die identifizierten Kandidatinnen und Kandidaten, sich beim Unternehmen zu bewerben. Sie überzeugen die Interessenten auch davon, das Stellenangebot anzunehmen. Active Sourcing hat aber auch mit Marketing zu tun. Es geht um eine Botschaft, die Kandidatinnen und Kandidaten anzieht, und darum, Kultur, Werte, Team und Vision des Unternehmens zu vermitteln. Das hat mit Analysen zu tun: Welche Kandidaten erreiche ich zu welchen Kosten über welche Kanäle?
«Active» ist ohne «Sourcing» nicht möglich – erst die professionelle Kombination macht es zum schlagkräftigen Werkzeug. Qualitatives Sourcing ist eine Erfolgsbasis: Passen die gesourcten Talente nicht zur Position, hilft die beste Ansprache nicht. Wer möglichst viele Talente identifiziert und anspricht, schiesst mit Kanonen auf Spatzen. Mit solchen «Kampagnen» erreicht man im Endeffekt nur 10 Prozent der aktiv Suchenden, denen es egal ist, wie sie an einen Job kommen. Ein professionelles Active Sourcing kommt durch personalisierte und punktgenaue Nachrichten dagegen auf Antwortraten von 40 bis 50 Prozent. Darin liegt die Kraft dieser Methode.
Lauwarmes Active Sourcing
Beim Active Sourcing denkt man meist daran, wildfremde Menschen für ein Unternehmen zu gewinnen. Bevor Sie sich in die Kaltakquise stürzen – denn Active Sourcing ist letztlich nichts anderes –, sollten «lauwarme Kontakte» berücksichtigt werden. So sind Beziehungen bei der Personalbeschaffung immer noch die beste Methode, Spitzenkandidaten zu finden und einzustellen. Zuerst sollten deshalb diese Quellen abgeschöpft werden.
1. Ehemalige Mitarbeitende (Boomerangs)
Identifizieren Sie alle ehemaligen Mitarbeitenden, die Ihr Unternehmen auf eigenen Wunsch verlassen haben. Einige davon werden gemerkt haben, dass das Gras woanders auch nicht grüner ist und kehren womöglich gerne wieder zurück. Dieser Ansatz führt zu qualitativ hochwertigen Einstellungen, da die Personen, die Sie ansprechen, eine bekannte Grösse sind. Schliesslich kennen Sie deren Fähigkeiten und Leistungsbilanzen. Und da diese unterdessen in anderen Unternehmen gearbeitet haben, verfügen sie zusätzlich über mehr Erfahrung und Wissen. Die Rekrutierung dieser Personen wird wahrscheinlich einfach sein, da sie Ihr Unternehmen bereits kennen.
2. «Silber- und Bronzemedaillengewinner»
Das sind Kandidatinnen und Kandidaten, die bei der letzten Vakanz den zweiten und dritten Platz belegten. Sie können sich für eine Rekrutierung eignen, da sie bereits teilweise bewertet wurden. Beginnen Sie mit den Fällen, in denen «Silber- und Bronzemedaillengewinner» nur deshalb nicht eingestellt wurden, weil sie das Pech hatten, sich zur gleichen Zeit wie ein Superstar-Bewerbender zu bewerben. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte diese Kandidatin, dieser Kandidat wahrscheinlich die Stelle bekommen.
3. Zu wenig Erfahrung
Je nachdem, wie viel Zeit seit der letzten Ausschreibung vergangen ist, können Kandidatinnen und Kandidaten, die damals (noch) nicht über genügend Erfahrung verfügten, heute genau passen.
4. Selbst zurückgezogen
Sprechen Sie auch hochqualifizierte Bewerbende an, die bei Ihrem letzten Einstellungsverfahren freiwillig ausgeschieden sind oder die Ihr Angebot abgelehnt haben. Vielleicht haben sie jetzt eine andere, positivere Perspektive.
5. Überqualifiziert
Überprüfen Sie diejenigen, die als überqualifiziert eingestuft wurden. Da sich die Zeiten und der Arbeitsmarkt geändert haben, kommen solche Personen aus heutiger Sicht durchaus infrage.
6. Passte nicht zum Vorgesetzten
Überdenken Sie Bewerbende, die zwar als qualifiziert und geeignet für das Unternehmen eingestuft wurden, aber nicht perfekt zu diesem Vorgesetzten oder Team passten. Was für einen Manager nicht passt, kann für einen anderen perfekt sein.
7. Diejenigen, die jetzt bei Top-Konkurrenzunternehmen arbeiten
Diese Personen sollten überprüft werden, weil sie Kenntnisse Ihrer Konkurrenzunternehmen mitbringen.
8. Die Anforderungen haben sich geändert
Wenn sich die erforderlichen Qualifikationen für die Stelle geändert haben oder herabgesetzt wurden, sollten Sie die Bewerbungen derjenigen erneut prüfen, die jetzt möglicherweise qualifiziert sind.
Active Sourcing (ob kalt oder lauwarm) ist in manchen Fällen eine vielversprechende Methodik, aber nicht für alle Positionen notwendig. Führen Employer Branding, Stellenausschreibungen und alle anderen passiven Methoden der Talentgewinnung zur konsistenten und ausreichenden Anzahl qualifizierter potenzieller Kandidatinnen und Kandidaten, ist Active Sourcing nicht notwendig. Während sich passive Taktiken und Strategien zur Talentgewinnung in erster Linie an Personen richten, die aktiv nach Karrieremöglichkeiten suchen, ist Active Sourcing eine Aktivität, die sich unabhängig vom Status der Arbeitssuche auf Erfahrungen und Fähigkeiten von Personen konzentriert, die das Unternehmen ansprechen möchte.
Tatsache ist, dass die Mehrheit jedes Talentpools aus Personen besteht, die nicht auf der auf Stellensuche sind, oder solchen, die sich nicht aktiv um Arbeitsmöglichkeiten bemühen. Trotzdem sind viele potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten interessiert zu erfahren, wie sie ihre derzeitige Situation verbessern und/oder ihre Karriere voranbringen können. Je nach Statistik und Berufsgruppe machen passive und nicht arbeitssuchende Personen bis zu 90 Prozent des gesamten Talentpools aus. Ohne Active Sourcing ist dieser Teil des Talentmarkts nicht erreichbar.