Bizarre Erfahrungen mit Interviews
Als Personaldienstleister erhält man von Kandidaten einerseits unverblümtes und ehrliches Feedback zu Vorstellungsgesprächen, andererseits auch Einblick in die damit verbundenen Prozesse der einzelnen Firmen – mit teilweise bizzaren Auswüchsen.
Ein Müsterchen gefällig? – Moritz Froschmeister, BSc in Maschinentechnik einer Schweizer Fachhochschule, liess am 4. April 2017 der Firma Esoki seine Unterlagen zukommen. Das erste Interview fand am 15. Mai 2017 (!) statt.
Moritz hörte trotz Nachfragen von der Firma nie wieder etwas. Am 22. Juni 2017 war Moritz bei der Firma Lumixa zum ersten Vorstellungsgespräch eingeladen. Die Firma meinte, dass die Einstellung dringend sei, und lud Moritz nach einem guten ersten Gespräch zügig zum zweiten Interview auf den 28. Juni 2017 ein.
Das Gespräch verlief gut und Moritz wartete geduldig auf den nach einer Woche angekündigten Bescheid, ob es zu einem Vertragsangebot kommen würde. Nach einer Woche teilte die Firma mit, dass sie noch eine weitere Woche für den Entscheid benötige.
Nach einer weiteren «weiteren» Woche wurde Moritz zu einem dritten Interview auf den 21. Juli 2017 eingeladen. Nachdem auch nach drei Wochen noch kein Vertragsangebot vorlag, entschied sich Moritz für eine andere Firma.
Schnell und offen kommunizieren
Gemäss unseren Erfahrungen verlieren rund ein Drittel der Firmen interessante Kandidaten, die sie gerne einstellen würden, weil sie zu wenig schnell sind. Wenn Mitarbeitende den «Key Success Factor» einer Firma darstellen, ist das betriebswirtschaftlich ungünstig.
Gleichzeitig neigen begehrte Spezialisten dazu, ein vorliegendes Vertragsangebot unnötig rasch anzunehmen. Diese «Zero-Risk-Bias» beim Kandidaten beheben zu wollen, mag spannend sein, ist aber anspruchsvoll.
Das wirksamere Mittel eines potenziellen Arbeitgebers ist, selber intensiv zu kommunizieren und ebenfalls schnell zu einem Entscheid zu kommen. Aus unserer Erfahrung tun Firmen gut daran, folgende drei Standards einzuhalten.
Erfolgreich rekrutierende Firmen...
- geben dem Kandidaten nach einer Bewerbung innerhalb von 48 Stunden ein erstes Feedback
- laden sehr gute, gesuchte Spezialisten innert Wochenfrist unabhängig von
- Ferienabwesenheiten zu einem erstes Interview ein
- legen anschliessend eine verbindliches Follow-up fest, das in der Regel innerhalb eines Monats zu einer Absage oder zu einem Vertragsangebot führt
Der erste Eindruck ist relativ
Ingenieure und Informatiker sind häufig sowohl als Linienchefs wie auch als Kandidaten nicht die gleich extrovertierten, empathischen Verhandler, wie dies beispielsweise Betriebswirtschafter sind. So hat sich auch schon die Situation ergeben, dass der Linienchef eine halbe Stunde zu spät ans Interview kam, sich nicht dafür entschuldigte und den Kandidaten einleitungslos fragte, was dieser ihm denn bieten könne.
Nach einem solchen Start mag der Kandidat folglich einen nicht überzeugenden, demotivierten Eindruck vermitteln.
Es stellt sich bei der Einstellung von Fachspezialisten, deren Erfolg vorwiegend auf technischen Fähigkeiten basiert, grundsätzlich die Frage, wie relevant der erste Eindruck bei einem Vorstellungsgespräch ist.
Wirft dieser Fragen auf, lohnt es sich, diese zu klären – auch wenn das zeitaufwendig und vielleicht unangenehm ist. Daraus ergeben sich folgende Grundsätze.
Souverän rekrutierende Firmen...
- ... nehmen den ersten Eindruck primär als Einstieg in ein gutes Gespräch.
- ... interessieren sich per se nicht für das Bewerberfoto.
- ... erläutern und begründen dem Kandidaten die Art der Fragen und unterhalten sich auch auf der Metaebene.
- ... erkennen, dass sie mit ihrem Auftreten und Handeln das Image der Firma massgeblich prägen, und verhalten sich auch an Vorstellungsgesprächen entsprechend respektvoll.
Im Fall von Moritz Froschmeister bringt es wenig, wenn das HR während des Vorstellungsgesprächs von «Commitment-Kultur», anspruchsvollen Projekten und der Notwendigkeit von qualitativer Arbeit spricht, diese Kriterien selber aber nicht einhält.
Können versus Potenzial
Ob eine Firma einen ungeschliffenen Diamanten oder einen leuchtenden Zirkon einstellen soll, ist eine Grundsatzfrage. Beim zweiten weiss man, was man hat, und beim ersten hat man die Chance, vielleicht den zukünftigen CEO einzustellen. Ob Kandidaten ihr Potenzial entfalten können, wird aber nicht mit der Frage nach Stärken und Schwächen geklärt.
Relevant ist herauszufinden, ob der Kandidat neugierig, lernwillig und lernfähig ist. Im Rahmen eines Assessments kann es deshalb sinnvoll sein, die Kandidaten Aufgaben lösen zu lassen, die Aufgaben direkt zu beurteilen und zu bewerten sowie diese noch einmal «nachlösen» zu lassen. Damit lassen sich der Lernwille und die Lernfähigkeit eines Kandidaten sowie seine Reaktion auf Kritik unmittelbar einschätzen.