Darum prüfe, wer sich bindet
Beziehungen zwischen Mitarbeitenden und Firmen dauern zwar nicht mehr, bis die Rente sie scheidet, dennoch ist die Qualität der ausgewählten und beförderten Mitarbeitenden einer der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren. Unternehmen tun deshalb gut daran, zu prüfen, wen sie an sich binden. Doch worauf ist bei solchen Prüfungsverfahren – den Assessments – zu achten? Wir haben drei Spezialisten gefragt.
Welcher Kandidat eignet sich am besten für den Job? Assessments helfen bei der Auswahl. (Foto: Archiv)
Fehlbesetzungen sind teuer. Etwa 150 000 Euro könnte ein mittelständisches Unternehmen mit etwa 1200 Mitarbeitenden pro Jahr sparen, «wenn es nach bekannten, expliziten Regeln für die Planung, Durchführung und Auswertung von Auswahlverfahren vorginge», so die Einschätzung einer Studie der deutschen Assessmentexperten Ute Stephan und Karl Westhoff.
Worin aber bestehen diese «bekannten und expliziten Regeln» bei Assessments? «In erster Linie in der Einhaltung von Objektivität, Reliabilität und Validität», sagt René Proyer, Lehrbeauftragter für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik am Psychologischen Institut der Universität Zürich. «Wenn zwei Personen sich mit einem Test auseinandersetzen, müssen sie zum selben Schluss gelangen.» Es müsse klar messbar sein, was man messen wolle. Beispielsweise, «wie oft jemand in einem Rollenspiel das Wort ergreift oder neue Themen anspricht.» Darüber hinaus müsse die Methode genau messen, was sie zu messen vorgebe: «Ein Rollenspiel, welche das Führungsvermögen eines Kandidaten testen will, muss ihm ermöglichen, Führung zu übernehmen.»
Bei der Organisation von Assessments hält sich Barbara Künzle, Assessmentspezialistin beim Beratungsunternehmen Avenir Consulting, an die Richtlinien des Verbands Swiss Assessment, denn: «Die Anforderungen an ein qualitativ hochstehendes Assessment werden in deren Kriterien umfassend beschrieben», betont sie. Auch Christine Kaiser, langjährige Assessmentberaterin und Career Advisor am Career Center der ETH Zürich, verweist auf diese Best-Practice-Richtlinien.
«Es gibt nie eine hundertprozentige Sicherheit bei der Beurteilung eines Kandidaten», beantwortet Barbara Künzle die Frage nach der Zuverlässigkeit von Assessments. «Dennoch erhält man mit einem Assessment einen breiteren Eindruck über einen Kandidaten, als es ein Rekrutierungsgespräch vermag, da man dieselbe Person an einem Tag in verschiedenen Situationen erlebt.» Durch den Methodenmix, die Mehrfach- und Doppelbeobachtung gewinne man verschiedene und voneinander unabhängige Eindrücke, so dass eine bewusste Manipulation schwierig sei.
Einfluss von Stress und Druck
Ob Stress und Druck die Ergebnisse verfälschen? «Nein», sagt Christine Kaiser. «In Stress- und Drucksituationen zeigt man ja gerade seine Kompetenzen wie Resilienz, Agilität oder das Vertrauen, der Situation gewachsen zu sein.» Zudem könne man den Umgang mit Assessments ja auch üben. Wie ein solches gestaltet werde, liege aber auch in der Verantwortung des Assessors: So könne im Assessment eine unpersönliche und kalte, aber auch eine entwicklungsorientierte Atmosphäre herrschen. Wenn ein Kandidat aber völlig aus dem Häuschen gerate, etwa weil er von seinem Unternehmen nur unzureichend über den Ablauf und die Erwartungen informiert wurde, habe sie hin und wieder auch schon mal ein Assessment abgebrochen. «Wir haben dann das Assessment einfach wiederholt», sagt sie.
Dass man nicht alle Assessment-Kandidaten mit Samthandschuhen anfassen muss, glaubt auch Barbara Künzle: «Gerade der Führungsalltag beinhaltet ja oft Stress und Druck sowie die Fähigkeit, sich unvorbereitet in Situationen zu begeben und dabei eine gute Leistung zu erbringen.» Aber auch sie setzt auf einen wertschätzenden Umgang, denn psychischen Druck aufzusetzen, sei der Sache nicht dienlich, insbesondere, wenn Misstrauen geschürt wird und der Kandidat dann «dicht macht».
Einbettung der Kompetenzmodelle
In der Personalselektion für Fach- und Führungskräfte sowie in der Personalentwicklung und für Standortbestimmungen setzt Barbara Künzle verschiedene Kompetenzmodelle ein: «Wir verwenden unser eigenes Modell oder stützen uns auf ein kundenspezifisches ab.» Je nach Führungsstufe seien Kompetenzen und Anforderungsprofile jedoch unterschiedlich ausgestaltet. Für Christine Kaiser steht dabei die unternehmensstrategische Einbettung des Kompetenzmodells im Vordergrund: «Um es mit den Unternehmenszielen zu verbinden, müssen die benötigten Kompetenzen im Vorfeld eines Assessments definiert und die dazu passenden Übungen ausgewählt werden.» Das erfordere jedoch im Vorfeld eine gründliche Analyse aller Stellenprofile.
Die strategische Einbettung solcher Assessments gelingt vielen HR-Verantwortlichen jedoch oft nicht, weil sie diese Grundlagenarbeit nicht machen: «Deshalb besteht bei der Auswahl der Methoden und Instrumente häufig eine eklatante Unkenntnis», so der Befund von Christine Kaiser. Dieses fehlende Verständnis führe dazu, dass die Qualität sowie die Vor- und Nachteile der eingesetzten Methoden und Instrumente für viele nur schlecht einschätzbar seien. Das bestätigt auch René Proyer. So gebe es beispielsweise bei der Auswertung von Persönlichkeitsfragebogen immer wieder Missverständnisse bei der Interpretation: «Ob jemand extrovertiert ist, wird man aus einem Fragebogen allein nicht ableiten können, ob er sich zum Zeitpunkt des Tests so beschrieben hat, hingegen schon.»
Würden gängige Standards eingehalten, die Benutzer bestmöglichst geschult und die Assessment-Ergebnisse besser im Entscheidungs- und Entwicklungsprozess eingebettet, könnte schon vieles zum Besseren gewendet werden, sind sich die Experten einig, denn wie so oft liegt der Fehler beim Benutzer und nicht im System. Daneben könnte die vertiefte Besprechung der Assessment-resultate sogar dazu genutzt werden, um zu erkennen, «wie lernbereit und veränderungsfähig jemand ist», sagt Barbara Künzle.
Trends und Retro-Trends
Aller menschlichen Fehlinterpretationen zum Trotz gibt sich René Proyer davon überzeugt, «dass sich bei der Standardisierung der Methoden und der Interpretation der Ergebnisse schon viel getan hat». Dieser Trend werde sich fortsetzen. So würden statistische Methoden noch genauer und Assessment-Tests zunehmend verhaltensgerecht auf den Benutzer zugeschnitten. Etwa bei Ambulatory Assessments, bei denen Benutzer in realen Alltagssituationen bewertet werden, oder bei adaptiven Tests, die sich deren Leistungsniveau anpassen.
Möglichkeiten, die sich erst mit der rasanten technischen Entwicklung aufgetan haben und die dazu führen werden, dass grosse Teile eines herkömmlichen Assessments in die Onlinewelt verlagert werden: «Leistungs- und Persönlichkeitstests lassen sich schon jetzt online ausfüllen», sagt Barbara Künzle. «Künftig könnte man aber auch Fallstudien, Textanalysen und Rollenspiele digitalisieren.» Ganz ersetzen liessen sich persönliche Kontakte aber nicht, denn «die Akzeptanz für Online-Assessments ist umso geringer, je höher jemand in der Hierarchiestufe angesiedelt ist.» Für Christine Kaiser bringt der technische und gesellschaftliche Wandel es zudem mit sich, dass Kompetenzen plötzlich wichtiger werden, die in jüngerer Vergangenheit ein Mauerblümchendasein gefristet haben, wie etwa die persönliche Integrität.