Rollenanforderungen an Führungskräfte

Das innere Führungsteam

Mit dem Modell des «Inneren Führungsteams» können wir Führungssituationen aus mehreren Blickwinkeln betrachten. Die unterschiedlichen Perspektiven helfen uns, ausgewogene Entscheide vorzubereiten und zu kommunizieren.

Frau Graber arbeitet in der Versicherungsbranche und leitet ein achtköpfiges Team. Das Arbeitsvolumen hat in den letzten drei Jahren massiv zugenommen. Die Mitarbeitenden sind an der oberen Grenze der Auslastung. Herr Burger, einer der acht Teammitglieder, beantragt bei Frau Graber einen sechsmonatigen unbezahlten Urlaub. Er brauche diese Auszeit, um langfristig weiterhin produktiv für das Unternehmen arbeiten zu können. Die vergangenen zwei Jahre hätten ihm auf Grund der hohen Arbeitsbelastung gesundheitlich zugesetzt. Wie entscheidet Frau Graber? Was bedeutet die Auszeit für das Unternehmen, das Team und für sie?

Interessenskonflikte als Regelfall

Führungskräfte agieren in einem fachlich und sozial komplexen Umfeld. Unzählige Erwartungen sollen tagtäglich erfüllt, wichtige Entscheide innert Rekordfrist gefällt werden. Interessenskonflikte sind eher die Regel als die Ausnahme.

Wie kann es gelingen, in solchen Situationen reflektierte, ausgewogene Entscheide zu fällen und diese angemessen zu kommunizieren?

Ein bewährtes Modell, das auch im Coaching Verwendung findet, ist das «Innere Führungsteam» von Maren Fischer-Epe. Die Methode dient dazu, Führungssituationen mehrperspektivisch zu betrachten und vorhandene Ambivalenzen bzw. innere Konflikte aufzudecken und zu benennen.

Vier Perspektiven

Im «Inneren Führungsteam» werden vier Perspektiven unterschieden, die eine Führungskraft beim Handeln, Entscheiden und Kommunizieren immer wieder einnehmen und abwägen muss:

Unternehmer: In der Rolle des Unternehmers hat die Führungsperson die Strategie und die Zielvorgaben des Unternehmens im Fokus. Sie handelt im Interesse des Unternehmenserfolgs. Es ist eine zentrale Aufgabe der Führungskraft, den Mitarbeitenden die strategischen Entscheide und die Unternehmensziele zu vermitteln und ihnen dadurch Orientierung zu geben.

Teamcoach: In der Rolle des Coaches fördert und fordert die Führungskraft ihre Mitarbeitenden. Sie schafft ein Umfeld, in dem die Mitarbeitenden ihr Potential entfalten können. Sie achtet auf die nötigen Rahmenbedingungen, damit das Team erfolgreich zusammenarbeiten und die gesetzten Ziele erreichen kann. Der Coach ist Anlaufstelle bei auftretenden Fragen und Problemen und sucht gemeinsam mit den Mitarbeitenden nach entsprechenden Lösungen.

Experte: Als Experte stellt die Führungskraft dem Unternehmen und dem Team ihr Fachwissen zur Verfügung. Sie achtet auf optimierte Prozessabläufe und stellt sicher, dass Aufgaben effektiv und effizient erledigt werden. Sie behält die Qualität der Kernprozesse und Dienstleistungen im Blick.

Selbst betroffener Mensch: Nicht zuletzt ist die Führungskraft auch immer involviert als betroffener Mensch. Wie geht es der Führungskraft persönlich bei wichtigen Entscheiden? Wie passen die eingeleiteten Massnahmen mit den eigenen Zielen und Werte zusammen? Wo geraten Unternehmensentscheide und persönliche Überzeugungen in Konflikt?

Frau Graber wägt die vier Perspektiven bei der Entscheidungsfindung sorgfältig ab.

Als «selbst betroffener Mensch» versteht sie den Wunsch nach einem längeren unbezahlten Urlaub von Herrn Burger sehr gut und würde diesen Antrag sofort bewilligen. Auch sie hat schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, eine längere Auszeit zu nehmen.

In der «Coach»-Rolle würde sie auf individueller Ebene den Wunsch von Herrn Burger gerne gutheissen. Sie schätzt diesen hoch qualifizierten Mitarbeiter und möchte ihn auf keinen Fall verlieren. Betrachtet sie hingegen das Team als Ganzes, befürchtet sie eine weiter zunehmende Arbeitsbelastung für ihre sieben anderen Mitarbeitenden, die den Aufgabenbereich von Herrn Burger ad interim übernehmen müssten.

Die «Unternehmerin» in Frau Graber hat grosse Bedenken. Zusätzlich zum Tagesgeschäft stehen aktuell verschiedene Projekte an, die von strategischer Bedeutung sind. Ein sechsmonatiger Ausfall von Herrn Burger würde das Erreichen der vom Unternehmen gesetzten Ziele gefährden.

In der Rolle als «Expertin» wird Frau Graber bewusst, wie sehr sie im nächsten Jahr auf die Expertise von Herrn Burger angewiesen ist. Speziell sein Fachwissen im Bereich Versicherungsmathematik kann zurzeit niemand im Team abdecken.

Fazit

Nach dieser mehrperspektivischen Analyse kommt Frau Graber zum Schluss, dass sie Herrn Burger den sechsmonatigen Urlaub nicht gewähren kann. Sie wird im gemeinsamen Gespräch mit ihm nach alternativen Möglichkeiten suchen. So kann sie sich zum Beispiel vorstellen, die sechsmonatige Auszeit über einen längeren Zeitraum zu verteilen. Ihr wichtigstes Ziel ist es, Herrn Burger im Team zu behalten. Die vier Perspektiven helfen Frau Graber nicht nur bei der Entscheidungsfindung, sondern auch beim Kommunizieren ihres Entschlusses.

Quellen:

  • Fischer-Epe, M. (2012). Das Innere Führungsteam. In Ch. Rauen (Hrsg.), Coaching Tools III (S. 136-141). Bonn: managerSeminare Verlags GmbH.
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Dr. Irene Gerbig-Calcagni ist Arbeits- und Organisationspsychologin und geschäftsführende Partnerin der A & O Unternehmensberatung AG. Als Beraterin und Coach ist sie für verschiedene Unternehmen tätig. www.ao-beratung.ch

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