HR Today Nr. 6/2021: Im Gespräch

Der grosse Umbruch

Auf der einen Seite werden Fachkräfte gesucht, auf der anderen Seite sind viele Arbeitnehmende arbeitslos. Wie sich die Betroffenen weiter qualifizieren können und den Anschluss in der Arbeitswelt halten, zeigt ein aktuelles Projekt der Universität St. Gallen.

Einige Branchen durchlaufen derzeit einen massiven Wandel und bauen Stellen ab. Andere suchen händeringend nach Fachkräften. Wie können wir diese Umbruchphase bewältigen?

Patricia Widmer: Von Betroffenen braucht es Mut, Beharrlichkeit, Kreativität, Offenheit und Flexibilität, bei der Bewerbung neue Wege zu gehen. Es braucht zudem ein Umdenken bei der Rekrutierung, damit nicht lineare Karriereverläufe positiv besetzt werden. Firmen müssen davon wegkommen, nur den aktuellen Wissens- und Erfahrungsstand von Kandidaten zu betrachten, und ihren transferierbaren Fähigkeiten mehr Aufmerksamkeit schenken. Das ist zu ihrem Vorteil: Quereinsteigende bringen frischen Wind und neue Blickwinkel in die Unternehmen. Dafür braucht es jedoch vermehrt Weiterbildungsangebote und Initiativen, die diesen Umstieg erleichtern.

Sie haben kürzlich ein Projekt zur Umschulung für Quereinsteigende aus Hotellerie, Gastro und Tourismus sowie für Cabincrew-Angestellte lanciert. Universität St. Gallen und diese Berufsgruppen: ein Widerspruch?

Wir beschäftigen uns schon fast zehn Jahre mit Wiedereinstiegen und Umschulungen. Beispielsweise mit «Women Back to Business» oder einem Programm für Pilotinnen und Piloten, das wir letztes Jahr lancierten. Letztlich haben uns aber die Auswirkungen der Pandemie dazu bewogen, einen entsprechenden Beitrag zu leisten und unser Angebot auszubauen. Wir wollen damit einen gesellschaftlichen Wandel bewirken.

Was ist das Ziel des Programms?

Das Reskilling-Sales-Programm ermöglicht Arbeitnehmenden, durch eine Umschulung unkompliziert in andere Branchen einzusteigen: Serviceorientierte Personen erhalten Wissen, Werkzeuge und praktisches Training, um ihre Karriere im Vertrieb neu zu gestalten. Dazu arbeiten wir mit der Digital-Recruiting-Agentur Lionstep zusammen. Diese evaluiert geeignete Kandidaten aus Branchen, die durch wirtschaftliche Entwicklungen oder aufgrund der fortschreitenden Automatisierung Jobs abbauen, wir an der HSG schulen die Arbeitnehmenden in einem auf die Bedürfnisse der Partnerunternehmen zugeschnittenen Programm und Lionstep vermittelt sie im Anschluss an diese sowie an andere Organisationen.

Die von Ihnen angesprochenen Arbeitnehmenden haben oft einen kleinen Bildungsrucksack und beziehen Niedriglöhne. Das erschwert eine Weiterbildung. Wo liegen die Möglichkeiten einer Umschulung und wo die Grenzen?

Es gibt zahlreiche Beispiele aus der Praxis, die zeigen, dass eine Umschulung gelingen kann. Mitarbeitende aus Hotellerie und Gastronomie sowie Cabincrew- und Tourismusangestellte haben einen grossen Rucksack an Fähigkeiten: Sie können beispielsweise gut auf Menschen zugehen, unter Druck arbeiten und sind serviceorientiert. Diese Talente können sie auch in Bereichen wie dem Verkauf nutzen. Um das Programm zu absolvieren, braucht es jedoch eine hohe Motivation und den starken Willen, etwas Neues zu erlernen.

Die Betroffenen haben oft mangelnde Deutschkenntnisse. Inwiefern berücksichtigen Sie das im Programm?

Das Angebot besteht vorwiegend aus englischen Unterrichtseinheiten. Selbstverständlich müssen die Betroffenen ihre Deutsch-, Französisch- oder Italienischkenntnisse je nach Sprachniveau und Einsatzort in der Schweiz noch verbessern.

Wie halten Sie die Eintrittshürden niedrig?

Das Reskilling-Sales-Programm ist ein Online-Programm. Teilnehmende können sich deshalb von überall zuschalten. Zudem dauert das Programm nur zwei Wochen und wird jeweils abends durchgeführt. Bei der Auswahl der Teilnehmenden geht es weniger um deren formalen Abschluss als um ihre Einstellung. Die Offenheit, Neues anzugehen, sowie Mut und Flexibilität sind bei der Programmteilnahme am wichtigsten.

Welche Inhalte werden vermittelt?

Inhalte, die Teilnehmende auf die Arbeit im Aussendienst, Kundendienst oder Verkauf vorbereiten. Dabei liegt der Fokus auf Verkaufspraktiken, Kundenzentriertheit, Kundenbedürfnissen, Kommunikation, Präsenz und Wirkung sowie Einfühlungsvermögen und der Fähigkeit zuzuhören.

Was sind die Minimalanforderungen an die Teilnehmenden?

Sie müssen mindesten 18 Jahre alt sein, eine Arbeitserlaubnis in der Schweiz haben und englische Unterrichtsinhalte verstehen.

Wie wird dieses Programm finanziert?

Unsere Partnerfirmen Lionstep, Amag, Brack, Helvetia Versicherungen, Localsearch und Coople übernehmen einen Grossteil der Kurskosten, sodass die Teilnehmenden nur einen kleinen Beitrag leisten müssen.

Im Fokus Ihrer Bemühungen sind auch Piloten. Wie kam es dazu?

Pilotinnen und Piloten waren zu Beginn der Pandemie stark von den Corona-Massnahmen betroffen. Wir haben deshalb das «Check-in to Management»-Programm für sie lanciert. Dieses richtet sich an Piloten, die sich für eine Managementposition interessieren. Ein Pilot trägt die Verantwortung für mehrere hundert Passagiere und die Cabincrew. Diese Fähigkeiten lassen sich übertragen, beispielsweise auf eine Führungsposition in einem Unternehmen. Bei den Piloten wie auch den Unternehmen ist unser Angebot auf grosse Begeisterung gestossen. Das hat uns dazu bewogen, weitere Dienstleistungen aufzubauen.

Werden Sie Mitarbeitende aus weiteren Branchen berücksichtigen – etwa Bekleidungsverkäuferinnen?

Wir werden das Programm ausbauen. Im Herbst 2021 folgen Bereiche wie Data Analytics und Online-Marketing.

Daneben planen Sie einen Career-Relaunch-Event. Worum handelt es sich?

Die Career-Relaunch-Tagung findet jährlich statt, im kommenden Jahr zum dritten Mal. Wechselwillige Personen oder Stellensuchende können sich an diesem Tag informieren und werden auf mögliche Karrierewege aufmerksam. Dazu stellen Unternehmen ihre Einstiegsprogramme vor, während Arbeitnehmende erzählen, wie ihnen der Wiedereinstieg oder Umstieg gelungen ist. Wichtig ist auch das Netzwerken untereinander.

Menschen mit Bruchstellen im Lebenslauf haben es als Quereinsteiger oft schwerer, eine Stelle zu finden. Wie nehmen Sie die Situation wahr?

Das ist sicherlich so, obwohl langsam ein Umdenken stattfindet. Um diesen Prozess zu beschleunigen, haben wir ein «Career Empowerment»-Label lanciert, das Firmen und Organisationen auszeichnet, die Menschen mit nicht linearen Lebensläufen einstellen.

Sind HR-Fachkräfte in der Rekrutierung zu risikoavers?

Der Mythos eines klassischen Karriereverlaufs hält sich stark. Dafür sehe ich drei Hauptgründe: Einerseits, weil eine HR-Fachkraft einen Vorgänger nachahmt. So hat sie das Gefühl, nichts falsch zu machen. Ausserdem werden lineare und nicht lineare Karriereverläufe häufig gegeneinander ausgespielt, statt dass ein Unternehmen transferierbare Fähigkeiten eines Kandidaten wahrnimmt. Daneben orientieren sich Firmen immer noch an vertikalen Karriereverläufen und suchen auf traditionelle Weise und in traditionellen Kanälen nach Mitarbeitenden. Das hat sehr stark mit dem Mindset und der Kultur zu tun. Recruiter müssen über ihren Tellerrand hinausschauen, wenn sie die besten Mitarbeitenden anziehen möchten. Es ist sinnlos, immer wieder dasselbe zu tun, dadurch Personen mit gleichen Eigenschaften zu rekrutieren und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.

Patricia Widmer ist seit Oktober 2014 an der Universität St. Gallen tätig, wo sie den englischen Studiengang des Zertifikatskurses «Women Back to Business» sowie das «Women’s Leadership Programme» aufbaute und Director for Diversity and Management Programmes ist. «Lionstep Career Transfer» ist ein Programm, das die Universität St. Gallen zusammen mit der Zürcher Digital-Recruiting-Agentur Lionstep erarbeitet hat. Es ermöglicht Arbeitnehmenden den Quereinstieg in eine andere Branche durch ein auf die Bedürfnisse der Partnerfirmen zugeschnittenes Umschulungsprogramm. Lionstep evaluiert hierfür Kandidaten aus Branchen, in denen die wirtschaftliche Entwicklung oder die fortschreitende Automatisierung zu einem Jobabbau geführt hat, und vermittelt sie im Programmanschluss an die Partnerfirmen sowie an weitere Organisationen. Am Programmstart können maximal 350 Personen teilnehmen. Voraussichtlich werden weitere Kurse im Verlauf des Jahres angeboten.
lionstep.com/reskilling-sales-programme

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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