HR Today Nr. 5/2018: Leadership

Dialog macht agil

Unternehmen müssen lernen, mit Unsicherheit und Komplexität umzugehen. 
Sie suchen nach Wegen, um agil und kreativ zu werden. Doch wie wird eine 
Organisation beweglicher, kreativer und menschlicher? Das dialogische Prinzip bewährt sich als erstaunlich modernes Paradigma. Einblick in einen Workshop.

Erfahrene Führungskräfte sitzen mit mir im Kreis, Manager eines soliden Maschinen- und Anlagenbauers mit mehr als hundert Jahren Geschichte. Über 20 000 Mitarbeiter bauen die stärksten Triebwerke und Turbinen, die schnellsten Anlagen und die präzisesten Maschinen. Weltweit, zuverlässig und in höchster Qualität.

Doch sie wissen nicht, wie man Daten nutzt, um neue Geschäftsmodelle zu formen. Oder wie man es schafft, für den Bau einer neuen Anlage weniger als zehn Jahre zu brauchen. Sie dürfen nicht im Home-Office arbeiten, da es hierfür zu viele Auflagen, aber keine Möglichkeit der Zeiterfassung gibt. Sie sind mit Problemen aus einer volatilen, unsicheren und komplexen Welt konfrontiert, aber ihr vorhandenes Wissen taugt nicht mehr, um in dieser neuen Welt zu überleben. Der Kontext von Wissen, Entscheiden und Handeln ändert sich gerade, aber ihre Kultur steht ihnen im Weg bei der Notwendigkeit, dieser neuen Welt agil und kreativ zu begegnen.

Das wissen auch die HR-Verantwortlichen des Maschinenbauers. Besonders der Vice President für People Development ist ein Pionier und sucht nach Wegen, die Kultur zu verändern und – wie er sagt – «Muster aufzubrechen». Keine leichte Aufgabe, wenn man wie dieser Konzern auf über 100 Jahre Industriegeschichte zurückblickt.

Gestrandete Crew

Es ist, wie wenn die Besatzung eines Schiffes plötzlich auf einer unbekannten Insel strandet. Die bisher funktionale, hierarchische Organisation wird bedeutungslos, sogar gefährlich. Auf der Insel braucht die Gruppe neue Fähigkeiten, um zu überleben: Es geht nicht mehr ums Navigieren, Kurse-Berechnen, Maschinen-Warten oder Segel-Setzen. Sie muss jetzt 
jagen, Süsswasser finden, Feuer machen oder sich gegen wilde Tiere schützen. Die Besatzung war im traditionellen Kontext mit klaren Rollen, Strukturen und Prozessen überlebensfähig, im neuen Kontext ist sie es nicht mehr. Sie muss neue Rollen ausprägen, neues Wissen zusammentragen, anders entscheiden und handeln. Übertragen auf die heutige (digitale) Transformation bedeutet dies, dass in traditionellem Kontext entwickelte Strukturen, Prozesse und Rollen ihre Wirksamkeit verlieren. An ihnen festzuhalten, ist sogar gefährlich.

Das Workshop-Konzept

So präsentierte sich die Situation beim mittelständisch geführten Unternehmen, bei dem ich kürzlich von den HR-Verantwortlichen eingeladen war. In mehreren Workshops erforschten wir, welches die zukünftig benötigten Fähigkeiten sind. Dafür suchten wir nicht nach abgedroschenen New-Work-Phrasen, sondern nach echten, neuen Kompetenzen. So entstand ein neues Programm für Führungskräfte, das die Selbstorganisation der Einzelnen und des Systems aktiviert. Einen Schwerpunkt haben wir dabei neben der Transformation auf Achtsamkeit und Dialog gesetzt. Inhalte, Formate und sogar der äussere Rahmen unterschieden sich deutlich von den bisherigen Lerngewohnheiten.

Schon im ersten Modul «Leading yourself – make yourself responsible» machten wir die Führungspersönlichkeiten mit dem Konzept der Achtsamkeit vertraut und führten sie dann szenisch durch Unsicherheit, Komplexität, hohe Dynamik und Paradoxien. Es sind schliesslich solche erlebten Erfahrungen (nicht Thesen auf Powerpoint-Folien), welche die Führungskräfte zur Einsicht bringen, dass sie ihre Führung verändern müssen.

Um beim Bild der Schiffsbesatzung zu bleiben, war die Macht des Kapitäns gegründet auf Erfahrung und Wissen. Im neuen Kontext besteht seine Rolle darin, die anderen zu unterstützen, Ressourcen des alten Systems (Schiff, Werkzeuge, Nahrungsmittel) zur Verfügung zu stellen – und nicht zuletzt: sein Ego im Griff zu haben. Denn er muss andere ermächtigen und Kontrolle abgeben, damit die Gruppe gute Entscheidungen treffen kann. Traditionell gründet sich Führung in Unternehmen oft auf die Konzentration von Wissen, Macht und Kontrolle. Bei steigender Unsicherheit, Dynamik und Komplexität der Umwelt (auch mit dem Begriff VUCA¹ beschrieben) werden Organisationen mit solch traditionellem Ansatz jedoch handlungsunfähig.

Wer sich fragt, wie er in einer unsichereren, komplexen, dynamischen und mehrdeutigen Welt erfolgreich bleibt und gleichzeitig bereit ist, die etablierte Kultur in Frage zu stellen, dem bietet das dialogische Prinzip Hilfe. Dialog bedeutet Zwiesprache oder Wechselrede, ist aber mehr als nur eine Kommunikationsform. Am Dialog sind alle beteiligt. Ideen werden gewürdigt, zu Lösungen weiterentwickelt, geteilt und «veredelt». Der Dialog wird zum Zentrum des Neuen.

Asymmetrische Kommunikation

Analysiert man Kommunikationsmuster in traditionellen Strukturen, so entdeckt man Asymmetrien: Es wird eher Top-down als Bottom-up kommuniziert. Manche Gruppen reden nicht miteinander. Nicht jeder darf über die gleichen Dinge sprechen, und nicht jeder darf mit jedem sprechen. Sogar Meetings laufen nach einem Schema ab, in dem Menschen asymmetrisch kommunizieren und verborgene Inhalte ausblenden: Resonanzen, Subtext, Mehrdeutigkeit, Emotion, Tabus, Ängste. Traditionelle Unternehmenskulturen haben keine Fähigkeiten etabliert, um mit Asymmetrie und Verborgenem umzugehen. Dadurch schränken sie sich in ihrer Kreativität, Beweglichkeit und Menschlichkeit ein.

Im Dialog dagegen sitzen die Beteiligten im Kreis, die Hierarchie wird ausser Kraft gesetzt – was notabene nicht einfach ist. Ideen entstehen im Raum des Dialogs, werden weitergedacht und formen sich zu Lösungen. Menschen teilen ihre Gedanken, aber auch Resonanzen oder Wahrnehmungen mit. In der dialogischen Kultur blickt man der Wahrheit ins Gesicht, auch wenn sie unangenehm ist. Doch genau aus dieser Haltung heraus entspringt der echte Dialog.

Das ist ein Problem für jene, die vom traditionellen System profitieren: Wer mitteilen darf, aber vor negativem Feedback geschützt ist; wer Anordnungen erteilen darf, ohne sich damit auseinandersetzen zu müssen; wen seine Rolle vor Kritik schützt; wer unreife Persönlichkeitsanteile mit Status verbergen kann – der scheut den 
Dialog.

Menschen statt Manager

William Isaacs hat dieses Prinzip in einem Buch beschrieben als «die Kunst gemeinsam zu denken»². Dialog ist vernetzte und symmetrische Kommunikation und bietet einer Organisation und ihren Menschen die Fähigkeit, auf eine unsichere, komplexe und dynamischen Welt zu reagieren. Wo einzelne Manager nicht mehr das Wissen haben, um gute Entscheidungen zu treffen, da eröffnet das dialogische Prinzip neues Potenzial. Der Dialog gründet auf Nicht-Wissen, geteilter Macht und Erforschen. Im dialogischen Prinzip wird Unsicherheit kultiviert. Das macht Unternehmen agil. Denn dialogisch können Unternehmen auf Komplexität beweglicher reagieren.

Nach zwei Tagen mit intensiven Dialogen, echten Begegnungen und sogar zwei Meditationen wurde noch eine wesentliche Eigenschaft des Dialogs offenbar. In der abschliessenden Runde fügte ein Manager – nach kurzem Innehalten – seinem persönlichen Feedback hinzu: «Danke, dass ihr uns als Menschen und nicht als Manager behandelt habt.»

Quellen:

  • ¹
VUCA: Abkürzung für Volatility, Uncertainty, 
Complexity, Ambiguity
  • ²
William Isaacs, «Die Kunst gemeinsam zu denken»
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Michael Pohl ist systemischer Coach und Trainer und begleitet Unternehmen durch Transformations­prozesse.

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