Die Nachhaltige
Viele reden darüber, nur wenige tun es: einen Beitrag zu einer nachhaltigen Wirtschaft leisten. Ganz im Gegensatz zu HR-Leiterin Gianina Viglino-Caviezel, die beim Life-Science- und Medtech-Unternehmen Hamilton den adäquaten Umgang mit natürlichen Ressourcen vorantreibt.
«Ich verschönere eine Situation nicht. Meine Mitarbeitenden sollen wissen, woran sie sind», sagt Gianina Viglino-Caviezel, HR-Leiterin bei Hamilton. (Fotos: Aniela Lea Schafroth)
Die vergangenen Wochen waren für die hochschwangere Gianina Viglino-Caviezel, HR- und Nachhaltigkeitsverantwortliche bei Hamilton, wahrlich nicht leicht. Während andere Branchen im April 2020 auf Kurzarbeit umstellten, wurde beim Life-Science- und Medtech-Unternehmen die Produktionsstrasse ausgebaut und neues Personal angeheuert, um die enorme Nachfrage zu befriedigen. «Wir mussten sehr schnell viele neue Mitarbeitende finden», sagt Viglino-Caviezel. Dafür habe das 27-köpfige HR-Team alle möglichen Kanäle genutzt – «vom klassischen Inserat über eine Onlinekampagne bis zur Mund-zu-Mund-Propaganda».
Die Solidarität im bündnerischen Bonaduz war gross. «Auf 140 ausgeschriebene Stellen haben sich sehr viele Menschen gemeldet, die sogar ehrenamtlich für uns arbeiten wollten.» Darunter Studenten, Zahnärzte und Detailhandelsangestellte. Aufgrund der neu gesetzten Prioritäten verzögern sich viele Projekte oder kommen vorübergehend zum Erliegen: etwa der Umbau der Kantine oder die Rekrutierung von nicht systemrelevanten Profilen. Die Mehrarbeit hat die Mitarbeitenden jedoch zusammengeschweisst. «Wir waren alle stolz, als die Superpumas des Bundes vor unserem Gebäude landeten, um Beatmungsgeräte abzuholen.»
Langsam kehrt bei Hamilton wieder Normalität ein. Der Umbau der Kantine schreitet voran, die Mitarbeitenden kehren gestaffelt aus dem Homeoffice zurück. «Wenn alles gut geht, sind bis im Juli alle wieder vor Ort.» Dann wird Gianina Viglino-Caviezel bis im Dezember 2020 bereits im Mutterschaftsurlaub sein. In der Zwischenzeit werde sie aber «nicht ganz vom Erdboden verschwunden sein» und ihr HR-Team bei anstehenden Projekten weiterhin unterstützen. «Es wird ein schleichender Wiedereinstieg.» Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, ist für Viglino-Caviezel kein Problem: «Nach meinem Mutterschaftsurlaub arbeite ich in vier Tagen 90 Prozent. Mein Mann reduziert sein Arbeitspensum ebenfalls. Ausserdem werden wir von unseren Familien unterstützt, die auch hier leben.»
Schritt für Schritt nachhaltiger
Ihre Auszeit ist sorgfältig geplant und die Aufgaben sind an ihre Mitarbeitenden längst verteilt. Doch die Arbeit wird nach ihrer Rückkehr nicht weniger und ihre Projektliste ist lang. Eines davon? Die Umsetzung des Schwerpunkts Nachhaltigkeit. Ein Begriff, der häufig im Gegensatz zu wirtschaftlichem Handeln steht. Nicht für Viglino-Caviezel: «Es geht darum, nicht mehr natürliche Ressourcen zu nutzen, als nachwachsen können, dies mit den Kernkompetenzen eines Unternehmens in Übereinstimmung zu bringen und als strategischen Vorteil zu nutzen.»
Dazu entwickelt die damals knapp 30-Jährige am Institut für Wirtschaft und Ökologie der Universität St. Gallen 2017 für ihre Dissertation ein Unternehmensmodell, das sie auch in ihrer aktuellen Position nutzt. «Hamilton bewegt sich Schritt für Schritt in eine nachhaltigere Zukunft und hat erste Grundsteine dafür bereits gelegt. Wir fangen nicht bei null an.» Schon heute heize und kühle die Firma ausschliesslich mit Grundwasser, habe auf den Betriebsgebäuden in Bonaduz und in Domat-Ems Solaranlagen installiert und am Neubau eine elektrochrome Fassade eingebaut, welche die Klimatisierungs- und Beleuchtungskosten um 25 Prozent senken soll. Auch bei der Mitarbeiterverpflegung werde das Klima künftig mehr geschont: «So wird Nachhaltigkeit für viele eher begreifbar.»
Um Hilfe bitten können
Die Mitarbeitenden der HR-Quereinsteigerin haben oft mehr HR-spezifisches Fachwissen als sie. Das stört Viglino-Caviezel aber nicht: «Eine Führungskraft muss nicht alles wissen und braucht andere Kompetenzen als ihre Mitarbeitenden.» Etwa jene, sie zu fördern und zu fordern, Impulse zu geben oder ihnen Steine aus dem Weg zu räumen. Wisse Viglino-Caviezel etwas nicht, bitte sie um Unterstützung. «Das ist bei meinen Mitarbeitenden bisher immer sehr gut angekommen. Sie sind sehr hilfsbereit.»
Aus ihrer langjährigen Beraterkarriere und als Unternehmensgründerin bringt Viglino-Caviezel vor allem strategisches Denken sowie ihre Erfahrung aus der Projektarbeit sowie der Struktur- und Prozessoptimierung ins Team. Dass so unterschiedliche Kompetenzen im HR aufeinandertreffen, ist für sie ein Vorteil: «Es wäre schade, wenn wir alle die gleichen Stärken hätten. So können wir uns ergänzen.» Doch wo Vielfalt herrscht, gibt es auch Reibung. Unstimmigkeiten anzusprechen, liegt in Viglino-Caviezels Natur: «Ich verschönere eine Situation nicht. Meine Mitarbeitenden sollen wissen, woran sie sind.» Dabei mache der Ton die Musik. Im Umgang mit ihren Kolleginnen und Kollegen legt sie grossen Wert auf ein respektvolles Miteinander. Das bedeute: sich auf Augenhöhe zu begegnen und andere Meinungen zu respektieren. «Jeder Mensch hat für mich die gleiche Wichtigkeit, egal, welche Rolle er gerade innehat.»
Wächst ein Unternehmen, verändern sich die Organisationsstrukturen. So auch im HR bei Hamilton. «Das ist ein laufender Prozess», sagt Viglino-Caviezel. Besonders beschäftigt sie dabei die Digitalisierung. «Wir müssen uns überlegen, welche Prozesse wir vermehrt automatisieren, wo und wann wir mehr Menschlichkeit brauchen und wie wir unsere bestehenden Prozesse an die stark wachsende Firma anpassen.» Beispielsweise in der Rekrutierung. Dabei stellen sich Fragen wie: Was erledigen wir on- und was offline und wie gestalten wir unsere Rekrutierungsprozesse je nach Mitarbeiterprofil? Aber auch: Wie sieht eine künftige Fachkarriere oder Berufslehre bei Hamilton aus und wie bringt das HR seine strategische HR-Sicht vermehrt ins Geschäft ein?
Unternehmensgründung im Blut
Unternehmerisches Denken wurde Viglino-Caviezel praktisch in die Wiege gelegt, da ihre Mutter seit fast 40 Jahren ein Modegeschäft betreibt. Schon während ihres Studiums arbeitet sie dort mit, hilft beim Verkauf, entwirft Marketingstrategien und berät ihre Mutter bei finanziellen Fragen. Der Sprung vom elterlichen Betrieb zum eigenen Unternehmen ist deshalb nicht gross. Als Gianina Viglino-Caviezel ihr Masterstudium 2011 an der HSG beginnt, schlägt die Stunde der Unternehmensgründung: «Schon während meiner Tätigkeit bei PwC in Zürich habe ich erkannt, dass sich viele KMU und Start-ups die Dienstleistungen der grossen Unternehmensberatungen nicht leisten können.» Eine Idee ist geboren: Ehrenamtlich tätige Wirtschaftsstudenten sollen so ausgebildet werden, dass sie dieselben Consulting-Dienstleistungen für Start-ups und KMU erbringen können – allerdings zu einem günstigeren Preis und mit dem Thema Nachhaltigkeit verknüpft.
Was mit Student Impact als kleines Projekt im Tandem mit einer Kollegin beginnt, mausert sich in kurzer Zeit zu einem Vorzeigeprojekt, für das Gianina Viglino-Caviezel als eine von 200 «Outstanding Global Leaders of Tomorrow» der Universität St. Gallen ausgezeichnet wird. Auch das WEF wird auf sie aufmerksam und ernennt sie zum Mitglied der Global Shaper Community. Eines der von ihr begleiteten Projekte – der erste elektrische LKW der Schweiz – wird im gleichen Zeitraum 2017 als bestes Consulting-Projekt in der Kategorie Next Generation des Jahres ins öffentliche Licht gerückt.
Rückkehr nach Graubünden
Fünf Jahre später ist Student Impact 2017 immer noch aktiv und wird grösser. Zeit für die 30-Jährige, die Leitung als Geschäftsführerin abzugeben. «Ich wollte das Unternehmen am Markt etablieren und dann eine Nachfolge finden.» Diese ist mit einer langjährigen Student-Impact-Kollegin bald ausgemacht. Für Viglino-Caviezel folgen viele öffentliche Auftritte zur Nachhaltigkeit und ein weiteres Jahr bei einem Consultingunternehmen, bevor sie sich einen Herzenswunsch erfüllt: Sie kehrt in ihre Heimat Graubünden zurück. Dass sie dort nun arbeiten und wohnen kann, ist für Viglino-Caviezel «ein Lottosechser».
Zur Person
2010 startet sie bei PricewaterhouseCoopers und beginnt ein Jahr später einen Master in Rechnungswesen und Finanzen, den sie 2013 beendet. Noch während des Studiums gründet Viglino-Caviezel mit «Student Impact» ein eigenes Unternehmen, bei dem HSG-Studenten für Start-ups und KMU vergünstigte Beratungsdienstleistungen anbieten.
2014 folgt ein Doktorat an der HSG, das sie 2017 abschliesst. Mittlerweile führt sie die Organisation in einem 100-Prozent-Pensum. Im gleichen Jahr übergibt Viglino-Caviezel die Geschäftsführung einer Kollegin und arbeitet ein Jahr lang bei einem Beratungsunternehmen, bevor sie 2019 nach Chur zurückkehrt.
Dort tritt sie im September ihre Stelle als HR-Leiterin beim Life-Science- und Medtech-Unternehmen Hamilton in Bonaduz an.