Wissensmanagement

Distributed Cognition Theory: Das kollektive und individuelle Lernen verzahnen

Lernen galt lange als individueller Prozess. Doch die Theorie der verteilten Kognition zeigt: Wissen ist ein kollektives Gut – und wird auch so angeeignet. Angesichts des digitalen Wandels und der zunehmenden Relevanz von KI müssen Unternehmen ihre Lernkultur überdenken, um zukunftsfähig zu bleiben.

Lernen ist ein individueller Prozess. Diese Überzeugung prägte lange Zeit unser Denken. Deshalb wird das individuelle Lernen noch heute nicht nur in den Schulen, sondern auch Betrieben stimuliert. Erst in den letzten Jahrzehnten setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass das Lernen – also der kognitive Prozess, in dem sich Menschen neues Wissen aneignen und in ihr vorhandenes integrieren – kein Prozess ist, der sich nur in ihren Köpfen vollzieht. Er vollzieht sich vielmehr bewusst oder unbewusst auch

  • in der Interaktion mit der Umgebung, in der die Lern- und Sozialisationsprozesse stattfinden,
  • in der Kommunikation und Auseinandersetzung mit anderen Personen und
  • unter Nutzung von Tools, die dem Erwerb und Austausch von Wissen und Erfahrung dienen.

Ein Vordenker in diesem Bereich war der 1980 verstorbene Schweizer Biologe und Pionier der kognitiven Entwicklungspsychologie Jean Piaget. Unter anderem auf seinen Vorarbeiten baut auch die in den 1990er Jahren von dem US-amerikanischen Anthropologen Edwin Hutchins entwickelte «Distributed Cognition Theory» zu Deutsch «Theorie der verteilten Kognition» auf. Ihre Grundannahme lautet: Das zum Lösen einer Aufgabe nötige Wissen (Cognition) muss nicht im Kopf einer Person vorhanden sein. Es kann auch auf mehrere Personen verteilt und sogar medial, also in Gegenständen, gespeichert sein.

Das Lernen findet in einem (sozialen) Kontext statt

Aus heutiger Sicht ist dieses Denken nicht neu. Schliesslich ist in den Betrieben inzwischen zum Beispiel die Teamarbeit gängige Praxis. Sie geht davon aus, dass • wenn mehrere Personen gemeinsam eine Aufgabe erfüllen und dabei ihr Wissen und ihre Erfahrung teilen, oft bessere Arbeitsergebnisse erzielt werden, als wenn eine Person dies allein tut, und • sich in dieser Zusammenarbeit auch individuelle und kollektive Lernprozesse vollziehen, sodass ausser der Kompetenz der Teammitglieder auch die Kompetenz der Organisation steigt.

Noch kaum berücksichtigt wurde dieses Wissen jedoch beim Gestalten der betrieblichen Lernlandschaften. Zwar wurde in der Personalentwicklung vieler Unternehmen bereits das Lernen in Projekten stimuliert, ansonsten wurde in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung das Lernen jedoch noch weitgehend als ein individueller Prozess verstanden. Eine geringe Bedeutung wurde der Theorie der verteilten Kognition beigemessen. Ein Tatbestand, der aufgrund des wachsenden Change- und somit Lernbedarfs in den Unternehmen zunehmend als Manko erkannt wird und somit eine neue Lernkultur erfordert.

Bedeutung der Lernmedien und -infrastruktur wird oft unterschätzt

Der Theorie der verteilten Kognition zufolge kann das erforderliche Know-how auch medial gespeichert sein – das sind zum Beispiel

  • Karteikarten
  • Lehr- und Handbücher,
  • Videos und CBT-Programme
  • Lern-PCs und vereinzelt sogar Lernplattformen

Ihre Bedeutung wird von den Unternehmen erst so recht erkannt, seit diese sich aufgrund des Arbeitskräftemangels und Generationswechsels zunehmend mit dem Thema Wissensmanagement befassen; also mit der Frage, wie kann das in den Köpfen unserer Mitarbeitenden vorhandene Fach- und Erfahrungswissen so gespeichert werden, dass dieses auch andere Personen sich aneignen und nutzen können, und zunehmend damit begannen, Wissensdatenbanken aufzubauen.

Das Thema «verteilte Kognition» gewinnt durch KI an Relevanz

Beschleunigt wird dieser Prozess durch die fortschreitende Digitalisierung. Immer mehr KI-Systeme können nicht nur gigantische Datenmengen verarbeiten, sondern sind auch selbst lernende Systeme und interagieren mit den Menschen. Daraus erwuchs eine Reihe neuer Fragen wie zum Beispiel:

  • Wie wird sich künftig die Zusammenarbeit Mensch-Maschine gestalten?
  • Welche Funktion können in diesem Prozess KI-Systeme übernehmen?
  • Inwieweit können sich die KI-Systeme und Menschen wechselseitig beim Lernen unterstützen?
  • Welche Lern- und Kommunikationskultur und -infrastruktur muss hierfür in den Unternehmen bestehen?

Hierdurch gewinnt auch die Theorie der verteilten Kognition an Relevanz, da sie das Verständnis dafür erweitert, wie Menschen denken, lernen und handeln und wie wichtig hierbei der jeweilige Kontext ist, in dem diese Prozesse stattfinden.

Zwar gibt es auch kritische Stimmen bezüglich dieser Theorie. So monieren zum Beispiel einige Kritiker, ihre Definition von Kognition sei so weit gefasst, dass eine Unterscheidung zwischen individuellen und verteilten kognitiven Prozessen kaum noch möglich sei. Dies könnte jedoch auch eine Folge der zunehmenden digitalen Vernetzung sein.

Das Lernen in den Betrieben auf ein neues Fundament stellen

Die Herausforderungen, vor denen die Unternehmen in der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt stehen, erfordern innovative Ansätze, um das Lernen so gestalten, dass es dem gewandelten betrieblichen Bedarf entspricht und zukunftsfähig ist. Hierfür bietet die Theorie der verteilten Kognition den nötigen theoretischen Rahmen, indem sie das Verständnis von Kognition erweitert und die Bedeutung der sozialen Interaktionen, Werkzeuge und Umgebungen für den Lernprozess betont. Deshalb spielt sie in der Debatte über das künftige Lernen eine wachsende Rolle, unter anderem, weil sie das theoretische Fundament für Antworten auf die Frage liefert, wie die KI im betrieblichen Bildungsbereich genutzt werden kann und welche Rolle sie künftig im Leistungserbringungsprozess spielt.

Vorstellbar ist vieles. So zum Beispiel, dass die KI die Mitarbeitenden von Routineaufgaben entlastet, so dass diese mehr Freiräume zum Entfalten ihrer kreativen und sozialen Fähigkeiten und Lernen haben; des Weiteren, dass sie Prozesse, Abläufe und sonstige Daten analysiert und für die einzelnen Mitarbeitende und Teams massgeschneiderte Lernpfade entwirft. Zudem können die digitalen Werkzeuge, die Zusammenarbeit und Kommunikation in Lerngruppen verbessern. Ausserdem können KI-gestützte Anwendungen wie Chatbots als persönliche Unterstützer im Lernprozess dienen und den Wissenszugang erleichtern. Dabei können diese Tools sowohl Hilfsmittel für die Lernenden als auch Lehrenden (wie Aus- und Weiterbildner, Trainer und Coachs) sein.

So hilft KI, neue Lernkulturen zu erschaffen

Exemplarisch seien hier einige Ansatzpunkte zum Neugestalten der Lernkulturen mit Hilfe der Digitalisierung und KI gemäss den Axiomen einer verteilten Kognition genannt.

  • Gestaltung effektiver Lernumgebungen: Mit Hilfe solcher digitalen Tools wie interaktiven Whiteboards können dynamische Lernumgebungen geschaffen werden, die die Interaktion der Mitarbeitende sowie deren Wissensaustausch stimulieren.
     
  • Förderung der Teamarbeit und des kollaborativen Lernens: Digitale Tools können auch das sogenannte Peer-Tutoring stimulieren, bei dem die Mitarbeitende gemein Aufgaben lösen und hierbei voneinander lernen. Dies fördert das wechselseitige Verständnis und den Beziehungsaufbau.
     
  • Einsatz adaptiver Lerntechnologien: KI-gestützte Lernplattformen können individuelle Lernpfade für die Mitarbeitende und Teams definieren und ihnen ein Feedback über ihre Lernfortschritte geben. Zudem können Chatbots und virtuelle Tutoren rund um die Uhr Fragen der Lernenden beantworten und ihnen beim Lösen ihrer Aufgaben assistieren.
     
  • Integration kognitiver Hilfsmittel: Visuelle, digitale Hilfsmittel wie Mindmaps und Concept Maps helfen den Lernenden beim Strukturieren, Verarbeiten und Speichern komplexer Informationen und fördern so den Kompetenzaufbau. Lern-Apps wie Anki und Quizlet helfen den Lernenden durch ein wiederholtes Üben, Informationen langfristig zu speichern.
     
  • Förderung der Reflexion und Metakognition: KI-Tools können die Mitarbeitende dazu animieren, zum Beispiel in strukturierten Feedback-Sitzungen oder mit Selbstbewertungsinstrumenten, ihre Lernprozesse zu reflektieren, um ihre Lernstrategien kontinuierlich zu verbessern. Dies ist für den Kompetenzausbau von zentraler Bedeutung.

 

Auf ein zukunftsfähiges Wissensmanagement 

Wie die Lernlandschaften in den Unternehmen künftig gestaltet sein werden, kann heute noch niemand mit Gewissheit sagen – auch weil zurzeit fast täglich neue KI-Tools im Markt angeboten werden, deren Einsatzmöglichkeiten im Bereich der betrieblichen Bildung noch kaum erprobt sind. Klar ist aber bereits: Wenn sich die Verantwortlichen in den Unternehmen beim Gestalten der Lerninfrastruktur in ihrer Organisation an den Prinzipien der geteilten Kognition orientieren, wird sich in ihnen eine ganz neue integrative Herangehensweise an die Themen Personalentwicklung und betriebliche Aus- und Weiterbildung etablieren, die das individuelle und kollektive Lernen verzahnt. Das führt nicht nur zu besseren Lernergebnissen, sondern auch zu einer stärkeren Einbindung und somit höheren Motivation der Mitarbeitenden.

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Sabine Prohaska

Sabine Prohaska ist Inhaberin des Beratungsunternehmens seminar consult prohaska, Wien, das unter anderem Online- und Blended-Learning-Trainer ausbildet. Die Autorin mehrerer Trainingsfachbücher berät und unterstützt Unternehmen bei Entwickeln einer neuen Lernkultur in ihrer Organisation (www.seminarconsult.at)

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