Arbeitszeugnis 2.0

Familie Wiesner Gastronomie will mit Fachleuten das Arbeitszeugnis neu gestalten

Das Arbeitszeugnis, wie wir es heute kennen, hat in vielen Bereichen ausgedient. Ein neues Projekt zielt darauf ab, das klassische Format neu zu gestalten.

Gemäss der Schweizer Gesetzgebung haben Arbeitnehmende das Recht auf ein Arbeitszeugnis, das sowohl ihre Leistungen als auch ihr Verhalten korrekt und wohlwollend darstellt. Das Zeugnis muss «wahr» und «vollständig» sein und sollte sowohl positive als auch negative Aspekte abbilden – allerdings ohne die berufliche Zukunft des Arbeitnehmenden zu gefährden. Diese rechtlichen Vorgaben führen in der Praxis jedoch häufig zu Spannungen, da das Zeugnis gleichzeitig objektiv und diplomatisch formuliert werden muss.

Viele Arbeitszeugnisse erfüllen zwar die formalen Anforderungen, sind jedoch oft wenig aussagekräftig. Mehr noch, sie unterscheiden sich in der Darstellung, sind umständlich formuliert und voller subtilen Codes, die versteckte Hinweise auf Schwächen geben, ohne diese explizit zu benennen. Ein solches Dokument erweist sich als schwer verständlich und nicht mehr zeitgemäss.

Die Herausforderungen des aktuellen Arbeitszeugnisses:

  1. Zeitaufwändig: Die Erstellung eines Arbeitszeugnisses ist ein mühsamer und zeitraubender Prozess. Im Durchschnitt dauert es 2,5 Stunden, bis ein Zeugnis vom Entwurf bis zur endgültigen Ablage bearbeitet ist. Insbesondere in grösseren Unternehmen kann sich dieser Zeitaufwand schnell zu einer organisatorischen Belastung summieren.
     
  2. Unklare Formulierungen: Arbeitszeugnisse sind oft mit versteckten Codes gespickt, die schwer zu entschlüsseln sind. Zum Beispiel könnte die harmlose Formulierung «Er war stets bemüht» darauf hindeuten, dass der oder die Mitarbeitende lediglich mittelmässige Leistungen erbracht hat. Diese verschlüsselte Sprache führt nicht nur zu Missverständnissen, sondern hinterlässt häufig einen negativen Eindruck – selbst bei positiven Zeugnisinhalten.
     
  3. Mangelnde Lesbarkeit: Viele Arbeitszeugnisse sind zu lang und unübersichtlich. Für Personalverantwortliche und zukünftige Arbeitgeber, die sich schnell ein Bild machen wollen, stellt dies eine unnötige Hürde dar. Solche «Textwüsten» führen oft dazu, dass wesentliche Informationen übersehen oder nicht richtig eingeordnet werden.
     
  4. Fehlende Standardisierung: Es gibt kein einheitliches Format für Arbeitszeugnisse, was dazu führt, dass sowohl die Qualität als auch der Inhalt stark variieren. Viele Personen, die für die Erstellung eines Zeugnisses zuständig sind, haben keine spezielle Schulung erhalten. Das erschwert es, Zeugnisse objektiv und vergleichbar zu machen.
     
  5. Mangelnde Digitalisierung: In einer zunehmend digitalen Welt wirken klassische Arbeitszeugnisse veraltet. Während viele Unternehmen bereits papierlos arbeiten, werden Arbeitszeugnisse oft noch in gedruckter Form erstellt und weitergereicht. Ein modernes, digitales Format, das den Anforderungen der digitalen Arbeitswelt gerecht wird, ist längst überfällig.

 

Das Arbeitszeugnis 2.0: Manuel Wiesner, die Graubündner Kantonalbank und Prof. Dr. iur. Thomas Geiser bringen Bewegung ins Spiel

Manuel Wiesner von der Familie Wiesner Gastronomie AG ist bekannt dafür, eingefahrene Traditionen im Personalwesen zu hinterfragen. In einem Pioneer-Projekt führte das Unternehmen die Lohntransparenz bei sich ein und holte sich dafür im Jahr 2023 den Swiss HR Award in der Kategorie «Out of the box». Zuletzt dachte Wiesner das Thema Trinkgeld neu, nun knöpft er sich das Arbeitszeugnis vor. In einem neuen LinkedIn-Post erklärt er seine Vision für ein Arbeitszeugnis 2.0.

Wiesners Ansatz als Initiator vom Projekt sieht vor, alle relevanten Informationen auf einer einzigen A4-Seite unterzubringen und dabei klare, visuelle Darstellungen zu nutzen, um die Fähigkeiten und Leistungen eines Mitarbeitenden hervorzuheben – damit das Arbeitszeugnis in weniger als 45 Sekunden gelesen werden kann.

 

 

Branchenübergreifendes Projekt

Diese Vision setzt Wiesner nicht allein um. Die Idee entstand bereits im Jahr 2020. Doch als er das Projekt im 2020 ins Leben rief, stiess er auf Zweifel: «Viele waren sich einig, dass es an der Zeit ist, das Arbeitszeugnis zu ändern, aber waren davon überzeugt, die Finanzwelt würde hier nie und nimmer mitmachen.» Doch dann trat die Graubündner Kantonalbank mit einer ähnlichen Idee auf ihn heran. Mit Prof. Dr. iur. Thomas Geiser hatte Wiesner schon einen zukunftsorientierten Experten im Boot – mit der Graubünder Kantonalbank und ihrer mitarbeiterzentrierten Kultur konnte das Kernteam aufgebaut werden, bestehend aus Expertinnen und Experten aus den Bereichen Organisationspsychologie, HR, Data Sience, IT-Software und Kreativwirtschaft.

Gemeinsam entwickelten sie erste Ideen für das Arbeitszeugnis der Zukunft. Eine Umfrage im Frühjahr 2023 testete bereits verschiedene grafische Darstellungen von Fähigkeiten. Es folgte ein runder Tisch mit 37 Teilnehmenden aus führenden Schweizer Unternehmen, Gewerkschaften und Universitäten. Das Projekt steht nun kurz vor der Finalisierung. Das Ziel: Das Arbeitszeugnis 2.0 soll als zweiter, moderner Standard neben dem klassischen Arbeitszeugnis etabliert werden – branchenübergreifend, einheitlich und digital. Die Einführung ist für Ende 2024 geplant. Begleitet wird der Start durch die Webseite arbeitszeugnis.work, die den Zugang zu diesem neuen Standard erleichtern soll. Darüber hinaus plant das Kernteam die Gründung eines Vereins, der sicherstellen soll, dass das Arbeitszeugnis auch in Zukunft relevant bleibt und mit den Entwicklungen der Arbeitswelt Schritt hält.

Mitbestimmen: Umfrage zur grafischen Darstellung im Arbeitszeugnis 2.0

Bevor es soweit ist, möchte das Kernteam noch einmal die Meinung der HR-Branche einholen. In einer finalen Umfrage geht es darum, welche grafische Darstellungsform die Fähigkeiten eines Mitarbeitenden am besten visualisiert. Zur Auswahl stehen drei Möglichkeiten:

  • Progress Bar: Eine Fortschrittsanzeige, die den Grad der Beherrschung bestimmter Fähigkeiten visualisiert.
  • Skill-Matrix: Eine übersichtliche Tabelle, die die wichtigsten Kompetenzen auf einen Blick strukturiert darstellt.
  • Netzdiagramm: Ein radiales Diagramm, das verschiedene Fähigkeiten visualisiert und dabei Stärken und Schwächen klar aufzeigt.

Ihre Meinung zählt: Welche dieser Darstellungen eignet sich am besten? Jetzt an der Umfrage bis 6. Oktober 2024 teilnehmen und das Arbeitszeugnis der Zukunft mitgestalten! Die Ergebnisse der Umfrage und die Vorschau des finalen Arbeitszeugnis 2.0 werden in der Dezember-Ausgabe von HR Today (6/24) vorgestellt.

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Online-Redaktorin, HR Today. jc@hrtoday.ch

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